Warum manche dabei bleiben

Die Erkenntnis, dass die Kirche unwahr ist beziehungsweise dass einem über Jahrzehnte hinweg Falsches gelehrt wurde, kann schleichend kommen. Oder es haut dich um wie ein Hammerschlag: In beiden Fällen gibt es den einen Zeitpunkt, an dem dir klar ist: Das war’s. Du hast dich täuschen lassen.

Anderen gelingt es hingegen, die Fragen und Zweifel wegzudrücken. Da fragt sich der Glaubensverlierer: Wie schaffen die das nur? Ein Erklärungsversuch:

‚Never change a running system’

Etwas zu ändern, was lange Zeit ‚funktioniert‘ hat, braucht einen immensen Energieaufwand. Sein Leben nach einem Glaubensverlust neu zu sortieren, kann mit das Schwerste sein, was man im Leben stemmen muss. Denn es gibt da eine Eigenschaft, die in uns allen tief verwurzelt ist: Wir fürchten Veränderungen. Wir verlassen einen einmal eingeschlagenen Weg nur ungern, auch wenn er uns in die Irre führt. 

„Ein belgischer Rentner wollte mit seinem Auto Brötchen holen. Er bog falsch ab und landete auf der Autobahn. Statt anzuhalten, sich in Ruhe zu orientieren, fuhr er einfach immer weiter. Erst der leere Tank seines Autos stoppte ihn. Das war in Deutschland, auf der A3 bei Waldaschaff, 400 Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Die Polizei wurde auf ihn aufmerksam, weil er sein Auto auf dem Standstreifen abgestellt hatte und zu Fuß weiterlief – in Badeschlappen. 
Solche Geschichten kann man immer wieder in der Zeitung lesen. Zugegeben: Es sind eher verwirrte Senioren, denen das passiert und die dann von ihren erschrockenen Familienangehörigen wieder abgeholt werden müssen. Ich denke aber, dass gerade im Alter das zutage tritt, was zuvor nur mit einer hauchdünnen Schicht Rationalität überdeckt ist: das Bestreben jedes Menschen, den einmal eingeschlagenen Weg auch weiterzugehen. Ohne nach links und rechts zu schauen. So läuft man erst gar nicht Gefahr, sich eingestehen zu müssen, in der falschen Richtung unterwegs zu sein. Und kann sich der Illusion hingeben, alles sei bestens. Selbst wenn der Weg noch so weit vom eigentlichen Ziel wegführt oder das Ziel seinen Sinn verloren hat – Hauptsache, es bleibt so, wie es ist.“ 

Diszipliniert an seinen Zielen festzuhalten und sich nicht gleich beim ersten Fehlschlag davon abbringen zu lassen, hat ja durchaus seinen Sinn. Manchmal ist es richtig, diszipliniert auszuharren. Manchmal ist es aber angebracht, lieber einen Neuanfang zu wagen. Besonders, wenn sich die Grundlage dessen, was man bislang verfolgt hatte, als unsinnig, falsch oder überholt erwiesen hat. 

Und natürlich muss man mit Trennungsschmerzen rechnen. Besonders, wenn man in der Vergangenheit so viel in den Glauben investiert hat, fällt es so unheimlich schwer, all das in den Wind zu schießen. Sollen denn all die Jahre umsonst gewesen sein? All die Versammlungen, Aktivitäten, Zehntengelder? Außerdem muss ich mir dann eingestehen, mich geirrt zu haben. Ich als intelligenter, mündiger, gebildeter, kritischer Mensch habe mit tiefstem Herzen an etwas Falsches geglaubt, habe mich manipulieren lassen, bin einem Schwindel aufgesessen. Dabei habe ich mich immer über hörige Sektenanhänger gewundert und den Kopf über die Anhänger der Zeugen Jehovas & Co. geschüttelt. Kann ich denn wirklich so blind gewesen sein? So naiv, dass ich das nicht tiefgehend hinterfragt habe? Sondern alle Behauptungen einfach geschluckt und jedes Anzeichen von Dissonanz und Widersprüchen ignoriert habe? Natürlich war ich nicht wirklich ein Fundamentaler, sondern habe mich immer als liberal und aufgeklärt empfunden. Natürlich habe ich nicht alles wortwörtlich genommen und mir meine eigenen Gedanken gemacht. Aber dass das alles ein Trugbild sein könnte? Alles das Produkt eines genialen und zugleich wirren Geistes und schließlich einer systematischen Schönfärberei und Vertuschung? Das rüttelt am eigenen Selbstbild. Das lässt sich nicht so leicht verdauen. Sich das einzugestehen, ist ein schwieriger, schmerzvoller Schritt. Ich habe aufs falsche Pferd gesetzt, bin denen auf den Leim gegangen, habe tatsächlich so etwas mal geglaubt.

Zu sich ehrlich sein, seinen Irrtum einzusehen, einen neuen Weg einschlagen, das erfordert also Mut und Stärke. Andererseits macht manch einer auch einfach weiter, obwohl es ihm wahnsinnig schwer fällt.

Ausharren bis ans Ende

„Im Juli 2008 starteten beim Zugspitz-Extremberglauf 585 Läufer. 16 Kilometer, 2100 Meter Höhendifferenz. Es regnete, die Temperatur war alles andere als sommerlich und der Wind biss. Nach einiger Zeit wurden Schneeschauer daraus. Plötzlich war die Laufstrecke mit 10 Zentimeter Schnee bedeckt. Im Juli! Manche Läufer brachen ihren Lauf ab. Andere machten weiter; in kurzen Hosen, ohne Mütze, in ärmellosen Hemden. Nichts konnte sie stoppen. Das Ergebnis: Sechs der Teilnehmer mussten im Garmisch-Partenkirchener Klinikum mit schweren Unterkühlungen behandelt werden. Zwei Läufer starben entkräftet und durchgefroren – knapp unterhalb des Gipfels. 
„Die Sportler (haben) oben natürlich den starken Willen, den Lauf zu Ende zu bringen“, sagte der Mediziner Markus de Marees, der als Höhenphysiologe an der Deutschen Sporthochschule in Köln arbeitet, in einem Interview der Frankfurter Zeitung. Und genau das ist die Haltung: Was ich angefangen habe, bringe ich auch zum Ende. Diese Haltung ist es, die die Entscheidungskraft lähmt und verhindert, die Konsequenzen zu ziehen, die der Situation angemessen wären.“

Trotz der Erkenntnisse über Joseph Smiths Polygamie, Aberglauben, Freimaurertum und Welteroberungsambitionen, trotz Problemen mit der Historizität von Buch Mormon und Buch Abraham, trotz der vielen Widersprüche und schädlichen Lehren über Homosexualität und Keuschheit der Kirche treu zu bleiben hat viel mit Aushalten zu tun. Wer sich abwendet, muss hingegen aushalten, seine komplette Weltsicht zu kippen. Sein bisheriges Ziel im Leben in Frage zu stellen. Aushalten muss man auch, die Erwartungen der anderen zu enttäuschen.  Schwer ist es, die Erfahrung zu machen, dass deine bisherigen ‚Geschwister‘ sich von dir abwenden. Das tut weh. Auf einmal sind wir aus der Gruppe der Gläubigen ausgeschlossen, zu der wir bisher meinten fest dazuzugehören.

Einmal gut, immer gut

„Süße Teddys, knuddelige Hündchen, freche Mäuse – die vierjährigen Kinder sind begeistert. Ein jedes, das an der Versuchsreihe der amerikanischen Yale-University teilnimmt, darf sich eines der Stofftiere mit nach Hause nehmen. Dazu dürfen sie zuerst aus dem Berg der Spielzeugtiere drei auswählen, die für sie in Betracht kommen. Mit großem Ernst wird die Auswahl vorgenommen: Das Kätzchen mit dem samtweichen Fell? Nein, das hat so doofe Augen. Lieber den braunen Bären. Abschätzende Blicke, abwägen und entscheiden. Dann liegen die drei Kandidaten unter den begehrlichen Augen der Kleinen auf dem Tisch. Der brummige Bär, der Fisch, der sich so gut unter den Arm klemmen lässt, und der Hund mit den extralangen Ohren. Nun muss das Kind eines der drei weglegen. Das dauert. Es ist so schwer, sich zu entscheiden! Nach langem Hin und Her wird der Fisch mit großem Bedauern wieder zurückgelegt. Nun gilt es, sich zwischen dem Hund und dem Bären zu entscheiden. Die langen Ohren geben den Ausschlag: Der Bär kommt wieder auf den Haufen, der Hund wartet darauf, liebevoll an die Brust gedrückt zu werden. Alles in Butter also, die Entscheidung ist gefallen. Jetzt aber legen die Psychologen Louisa C. Egan, Laurie R. Santos und Paul Bloom dem Kind noch einmal den zuvor weggelegten Fisch auf den Tisch und sagen, dass es sich noch einmal zwischen Fisch (Platz 3) und Hund (Platz 1) entscheiden darf. Und obwohl es den Kindern anfangs so schrecklich schwer gefallen war, die Auswahl zu treffen, wird in ausnahmslos allen Fällen der Fisch wieder verworfen. Der Hund wurde gewählt und es bleibt dabei. 
Dieser an der amerikanischen Yale-University im Jahr 2007 durchgeführte Versuch stieß auf weltweites Interesse. Er zeigt, dass schon vierjährigen Kindern der Hang zum Selbstbetrug in den Knochen steckt. Sie bleiben strikt bei ihrer Wahl, obwohl auch die Alternative durchaus in Frage kommt. Selbstbetrug? Wieso das denn? Wissenschaftler sprechen von dem Prinzip der Kohärenz: Alles ist tiptop im Leben, keine losen Enden, alles fügt sich zusammen. Jedes Puzzleteil ist an seinem Platz. Um das zu erreichen, wendet das Gehirn einen Trick an: sekundäre Rationalisierung. Mit nachträglichen Begründungen plausibilisiert es getroffene Entscheidungen. Das funktioniert wunderbar – auch wenn die Gründe manchmal ganz schön weit hergeholt sind. Das fängt beim Kauf teurer Schuhe an. „Die halten länger.“ Die sekundäre Rationalisierung ist ein Programm, das zunächst einmal sinnvoll erscheint. Es sagt dir: Du kannst dich auf dich verlassen. Wenn Zweifel gar nicht zugelassen sind, Alternativen ausgeblendet werden, dann gibt das Sicherheit. Eigentlich ist es ganz angenehm, wenn man von Geburt an so gepolt ist, dass das, wofür man sich einmal entschieden hat, auch das Beste bleibt. Dann kommen erst gar keine negativen Gefühle wie Zweifel auf: „Wäre es vielleicht doch besser gewesen, den Fisch zu nehmen? Ist der Hund wirklich der Schönste?“ Mit einem „Jetzt, wo ich ihn habe, ist es ganz klar: Der Hund ist viel schöner als alle anderen“ lebt es sich weitaus bequemer. 
Der Grund, warum dieses Denken so gut funktioniert: Wenn alles, was du nicht gewählt hast, minderwertig ist, dann ist für dich alles bestens. Dann gibt es keine Alternativen zu dem, was du ohnehin tust und bist. Mit anderen Worten: Es gibt gar keinen Anlass, etwas zu ändern, also Entscheidungen zu treffen. Es kann alles so bleiben, wie es ist. Das ist eine sehr konservative Denk- und Handlungsweise. Das Gewohnte, das Bekannte hat Macht über uns. Es verschleiert den Blick auf die Realität. Platz für Neues ist da nicht. Sich einmal auf etwas alternativlos festzulegen, ist der Auslöser einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Du sagst, die Salami vom Feinkosthändler XY sei die beste, dann wird sie es auch sein. Denn du kaufst ja gar keine andere mehr, mit der sie einen Vergleich aushalten müsste.“ 

Das bringt natürlich einen Vorteil – auch wenn es noch so irrational, unsinnig oder drittklassig ist. Du nimmst das, was du immer nimmst. Du musst dich nicht mit Zweifeln auseinandersetzen, ob das, was du hast, wirklich das Richtige, wirklich wahr ist. Du bist es gewohnt. Das ist komfortabel. Das ist bequem. Du musst nicht lange nachdenken, musst dich nicht wirklich mit unterschiedlichsten Glaubensansichten beschäftigen. Wer stellt schon alles, woran er glaubt, in Frage? Wer macht sich die Mühe und studiert die Literatur zur Historizität von Jesus? Oder gar religiöse Schriften der Hindus oder Buddhisten, wenn er doch weiß, dass das Buch Mormon wahr ist? Dann muss ich mich nicht einmal mit den umfangreichen Joseph Smith Papers beschäftigen. Das hat mir dankenswerter Weise der Heilige Geist erspart, wo er mir doch immer wieder ein so warmes, gutes Gefühl in meinem Glauben schenkt. All die genannten Vermeidungs- und Selbsttäuschungsmechanismen zahlen also auf zweierlei ein: Trägheit und Feigheit. Aus Trägheit bleibst du bei deinem Glauben, egal was. Aber du gestehst dir das nicht ein. Du rationalisierst dir dein Verbleiben, findest dankbar scheinbar rationale Gründe. Bloß nichts ändern, bloß nicht die Möglichkeit ernst nehmen, dass du dich all die Jahre hast blenden lassen. Vielleicht findet sich ja doch noch eine nephitische Spur in Zentralamerika oder ein bisschen israelitische DNA in den Anden. Vielleicht erhalten die Apostel und Propheten zur Abwechslung mal wieder eine Offenbarung, womit sie zeigen, dass sie ihrer Zeit voraus oder wenigstens auf der Höhe der Zeit sind. Vielleicht kommen aber auch Polygamie und Tieropfer wieder. Wenn dann noch Schlagzeug und E-Gitarre im Gottesdienst Einzug halten, bin ich vielleicht wieder dabei. Nein, man muss auch mal gut sein lassen und mit der Vergangenheit abschließen. Das gelingt mir bestimmt demnächst, habe schließlich schon alle meine Kirchenbücher zum Altpapier gebracht. Kleiner Mutmacher an all die Zögerer und Verdränger: "Einen Wahn verlieren macht weiser als eine Wahrheit finden." (Ludwig Börne, 1786-1837)