Wahr oder Legende?

In seiner Ansprache in der Generalkonferenz im Oktober 2012 mit dem Titel 'Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen' erklärte Elder Robert C. Gay von den Siebzigern:
 
"Gegen eine Flasche Milch, einen falsch geschriebenen Namen, ein Linsengericht wurden Geburtsrechte und Erbteile eingetauscht."

In den Fußnoten zur Flasche Milch heißt es:

"Eine Flasche Milch und der Rahm davon waren Gegenstand eines Streits zwischen der Frau von Thomas B. Marsh und Schwester Harris, die vereinbart hatten, ihre Erträge zusammenzulegen und Käse herzustellen. Als Schwester Harris feststellte, dass Schwester Marsh den Rahm für sich zurückbehalten hatte, kam es zu einem Streit zwischen den beiden. Thomas Marsh legte die Angelegenheit dem Bischof vor, der Schwester Harris Recht gab. Vom Bischof gelangte der Fall vor den Hoherat und dann weiter zur Ersten Präsidentschaft, die alle zu dem Schluss kamen, dass Schwester Marsh im Unrecht war. Dies trieb einen Keil zwischen Thomas Marsh und die führenden Brüder. Kurz darauf sagte Thomas Marsh unter Eid vor einem Friedensrichter in Missouri aus, die Mormonen seien dem Bundesstaat Missouri feindlich gesinnt."

Und zum falsch geschriebenen Namen:

"Nachdem der Prophet Joseph Smith Simonds Ryder als Missionar berufen hatte, entdeckte Ryder, dass in der gedruckten Offenbarung sein Name „Rider“ geschrieben worden war. Er war beleidigt und wandte sich von der Kirche ab. Später war er sogar beteiligt, als der Prophet geteert und gefedert wurde. Ryder wusste nicht, dass Joseph Smith Offenbarungen für gewöhnlich seinen Schreibern diktierte und mit der Rechtschreibung nichts weiter zu tun hatte."

Beide Aussagen sind historisch falsch. Es gibt keinerlei Belege für die Rahmgeschichte. Diese diente lediglich in Utah dazu, Thomas Marsh nachträglich zu diskreditieren. Auch der falsch geschriebene Name als Grund für das Verlassen der Kirche ist eine reine Legende, wie Historiker Mark L. Staker klarstellt. Dass Namen unterschiedlich geschrieben wurden, war damals nämlich gang und gäbe. Selbst in seiner später von ihm ins Leben gerufenen eigenen Kirchengemeinde wurde sein Name "falsch" geschrieben. Und in seinen Zeitungsartikeln, die er nach dem Verlassen der Kirche schrieb, findet sich kein Hinweis auf einen Schreibfehler. Stattdessen hatte er ein Problem mit dem Gesetz der Weihung. (Siehe Mark L. Staker in 'Hearken, O Ye People', S. 294)

Auch räumt er mit dieser Legende auf:

"Sowohl beim Kirtland-Tempel als auch beim Nauvoo-Tempel folgten die Frauen, indem sie ihr wertvolles Porzellan in kleine Teile zerschlugen, damit es für die Mauern des Tempels verwendet werden konnte." (James E. Faust, Generalkonferenz Okt. 1999, 'Was es bedeutet, eine Tochter Gottes zu sein') Wie Mark L. Staker auf S. 437 seines Buches beschreibt, gab es kaputtes Geschirr und Glaus zuhauf in den Städten, ohne dass extra welches geopfert werden musste.

Warum werden derartige falsche Legenden nicht offiziell korrigiert und stattdessen sogar vom Podium in Generalkonferenzen weiter zirkuliert? Anscheinend spielt Wahrheit eben keine große Rolle, solange die Aussage dem Zweck der Kirche dienlich ist. Wie kann man da irgendwelchen Aussagen der Kirche hinsichtlich ihrer Geschichte trauen?