Wie wahr ist das, was wir für wahr halten, eigentlich?



Chris Argyris, Professor an der Yale University und später Harvard University, hat die Theorie der ‚Leiter der Schlussfolgerungen‘ (‚ladder of inference‘) entwickelt. Sie versucht zu erklären, warum gleiche Situationen von verschiedenen Personen oft unterschiedlich wahrgenommen werden und die gleichen Fakten zu vollständig unterschiedlichen Schlüssen führen können.

Nach dem Modell laufen in unserem Gehirn, wann immer wir in der Welt um uns herum etwas wahrnehmen, innerhalb von Millisekunden sieben Schritte ab. Dagegen kann man nichts tun, und meist geschieht es, ohne dass wir es mitbekommen. In vielen Fällen funktioniert die Leiter sehr gut. Allerdings sollten wir diesem automatischen Ablauf nicht immer blind vertrauen. Gelegentlich kommt es dabei zu Ergebnissen, die es wert sind, hinterfragt zu werden. Auch ist die Leiter Ursache vieler Konflikte und Missverständnisse.

Denn die Leiter führt zu Annahmen, Schlussfolgerungen und Überzeugungen, die nicht auf reinen Beobachtungen und Fakten beruhen, sondern Interpretationen sind. Es entsteht ein Kreislauf, in dem sich jeder Mensch mehr oder weniger seine eigene Realität schafft und seine selektive Wahrnehmung formt. Ohne dass wir uns dies bewusst machen, sind wir in diesem Muster „gefangen“. Alternativ zu denken und handeln fällt uns schwer. Außerdem ist all das, was uns zu einem Ergebnis führt, selbstverständlich wahr, denn

  • unsere Glaubenssätze sind wahr
  • die Wahrheit unserer Schlussfolgerungen ist offensichtlich
  • unsere Annahmen basieren ja auf realen Daten
  • die Daten, die wir wahrgenommen haben sind die Wirklichkeit

Die 7 Schritte der ‚ladder of inference‘
  1. Wahrnehmung: Dein Gehirn erhält über die Sinneskanäle eine Abbildung der Realität.
  2. Filter/Selektion: Auf Basis früherer Erfahrungen und deinen Einstellungen wird ein (großer) Teil dieser Daten verworfen, andere werden dafür in den Vordergrund gestellt.
  3. Interpretation: Dein Gehirn interpretiert die gefilterten Informationen, im Rahmen kulturell und individuell geprägter Regeln, um das Wahrgenommene zu verstehen und zu interpretieren, was es bedeutet.
  4. Beurteilung: Nun beginnst du Annahmen auf der Grundlage deiner Interpretation zu entwickeln. Du erzählst dir Geschichten, um das Wahrgenommene in einen für dich schlüssigen und verstehbaren Zusammenhang zu betten - die "Fakten" werden immer mehr um Fantasie ergänzt.
  5. Schlussfolgerung: Basierend auf der Geschichte, die du nun entwickelt hast, kommst du zu Schlussfolgerungen, evtl. begleitet von emotionalen Reaktionen.
  6. Überzeugungsbildung: Deine Einstellung und dein Urteil über die Situation bildet sich und dies hältst du natürlich, wie alles andere vorher auch, für wahr.
  7. Handlung: Basierend auf dem vorigen triffst du eine Entscheidung und handelst - typischerweise mit dem starken Gefühl im Recht zu sein.
Wichtig: Die in Schritt 6 gebildeten Überzeugungen beeinflussen wiederum deine Filtereinstellungen in Schritt 2. Zukünftige Ereignisse werden entsprechend gefiltert. Daher ist es oft so, dass je länger jemand über etwas nachdenkt, ohne neue Informationen zu bekommen, er es immer mehr für wahr hält.

Die Enden der Leiter, Wahrnehmung und Handlung, sind äußerlich sichtbar, die Schritte dazwischen laufen sehr schnell, für niemanden sichtbar, innerlich ab.



Den Autopiloten hinterfragen

Dazu zwei wichtige Aspekte:
  1. Ein Irrtum auf einer der Leiterstufen speist die folgenden Stufen und kann zu starken und unangebrachten Reaktionen führen.
  2. Innerhalb der Leiter gibt es eine selbstverstärkende Feedbackschleife. Die Schlussfolgerungen und Meinungen, die du auf den oberen Sprossen gewonnen hast, beeinflussen deine Filter. Du achtest immer mehr auf das, was zu deinen Annahmen passt. Wenn du nun länger in einer Situation bist oder sie wiederholt durchdenkst, werden sich deine Schlussfolgerungen und Meinungen durch das Feedbacksystem weiter festigen und verstärken. Wenn du irgendwo im Prozess einen Fehler hattest und die Situation falsch bewertet oder mit ungünstigen Annahmen gearbeitet hast, wird aus der Leiter schnell ein Teufelskreis.
Um dieser Falle zu entgehen, sind diese Schritte sehr hilfreich: 
  • Überprüfe deine Annahmen und Schlussfolgerungen. Wenn du auf ein Ereignis automatisch reagierst, dann achte einmal ganz bewusst auf deine Leiter: Frage dich, welche Glaubenssätze gerade zum Tragen kommen und wo du sie her hast. Was ist objektiv passiert? Welche Annahmen haben dich zu deinem Ergebnis geführt?
  • Überprüfe deine Filter, indem du bewusst Ausschau nach Wahrnehmungen und Informationen hältst, die deiner Interpretation, Beurteilung – also deiner Weltsicht - widersprechen.
  • Mache anderen gegenüber deinen Leiter-Prozess deutlich, indem du deine Annahmen, Interpretationen und Ergebnisse offenlegst.
  • Hilf anderen, ihren Leiter-Prozess zu erkennen, indem du offene, nicht-wertende Fragen stellst und damit verborgene Annahmen und Interpretationen an die Oberfläche bringst.