Optische Illusion

Als jemand, der seinen Glauben verloren hat, oder wie ich es sehe, die Illusion seines Glaubens durchschaut und damit abgelegt hat, habe ich zwei Erfahrungen gemacht:

(1) Ich habe lange Zeit gebraucht, um damit klarzukommen, dass ich jahrzehntelang all diese Dinge glauben konnte. Denn sobald man hinter die Fassade schaut und das Kartenhaus des Glaubens zusammenfällt, erscheint es einem so offensichtlich, dass es nur Täuschung ist.

(2) Wenn man Gläubigen von den Fakten berichtet, die einen selber dazu gebracht haben, die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen, dass die Kirche doch nicht wahr sein könnte und schließlich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht wahr ist, erlebt man häufig Desinteresse, Abwehr und die Reaktion: Das ist für mich kein Problem und kein Anlass, an meinem Glauben zu zweifeln.

Warum ist das so? Warum kann man jahrelang von der Wahrheit der Kirche überzeugt sein und plötzlich bricht dieser Glaube vollständig in sich zusammen wie eine platzende Seifenblase? Warum stören diese Tatsachen andere nicht, obwohl sie mindestens so intelligent sind?

Die Erklärung ist, dass der Glaube an die Wahrheit so funktioniert wie diverse optische Illusionen. Solange man die Fakten aus einer ganz bestimmten Perspektive betrachtet, machen sie vollständig Sinn und erscheinen stimmig und logisch. Sobald man aber die Perspektive verändert, ist es für einen glasklar, dass es sich um eine Täuschung handelt. Das Aufdecken der Illusion hat also nichts mit Intelligenz zu tun, sondern einzig von der Perspektive.





Wie diese Beispiele zeigen, kann die Illusion nur aufgedeckt werden, wenn man seine Perspektive verändert. Ansonsten wird es kein Argument geben, den Glauben an die Illusion aufzugeben. Wenn man sich die Hauptargumente gegen die Wahrheit der Kirche anschaut, so gibt es immer eine Antwort auf die einzelnen Punkte oder zumindest Sichtweisen, damit klarzukommen:
- für Gott ist alles möglich
- wir können aktuell nicht alles verstehen
- wissenschaftliche Erkenntnisse sind nicht zuverlässig und ändern sich ständig
- es muss Gegenargumente bzw. darf keine überwältigenden Beweise geben, sonst wäre Glaube nicht möglich
- auch Profeten sind nur Menschen und Heilige Schrift unvollkommen
- aufgrund geistiger Erlebnisse weiß ich aber, dass es wahr ist

Und so kann man an die Kirche glauben, selbst wenn einem bekannt ist, dass
- das Buch Abraham nichts mit dem Inhalt der Schriftrollen zu tun hat, von denen es angeblich übersetzt war
- der Turmbau zu Babel, die Flut, der Auszug aus Ägypten, die verlorenen 10 Stämme, Abraham, Isaak, Jakob, König David & Co. nicht historisch sind, sondern auf Legenden basieren
- das Buch Mormon rassistische Inhalte hat und die dunklere Hautfarbe der Indianer mit dem sündigen Verhalten eines Volksstamms erklärt
- das Buch Lehre und Bündnisse behauptet, die Erde sei nur 6.000 Jahre alt
- viele Bücher des Neuen Testaments gefälscht sind und keines von Augenzeugen Jesu stammt
- es keine Hinweise in Amerika gibt, die für eine Migration aus dem Nahen Osten sprechen
- die Tempelzeremonien von den Freimaurern inspiriert sind, welche keinesfalls bis zum Tempel Salomo zurückgehen
- Joseph Smith auf sehr zweifelhafte Art und Weise Dutzende zum Teil bereits verheiratete oder minderjährige Frauen ehelichte
- Brigham Youngs Offenbarungen und Prophezeiungen zu Adam-Gott-Theorie, Blutsühne, Umgang mit Schwarzen später revidiert wurden
usw.

Was bringt nun Mitglieder dazu, die gläubige Perspektive zu verändern? Es ist ein wenig so wie bei der Truman Show, als die Illusion erst auffliegt, weil plötzlich ein Scheinwerfer herabfällt. So kommt der Hauptdarsteller dahinter, dass sein ganzes Leben nur eine Täuschung ist.

Dieser Auslöser für Zweifel und Skepsis kann für jedes Mitglied unterschiedlich sein. Mal hat es mit Kirchengeschichte zu tun, mal mit Naturwissenschaft oder Bibelkunde, mal der aktuelle Umgang mit Homosexualität oder Frauen, mal die Geschäftsaktivitäten der Kirche. Mal sind es eher die logischen Fakten, mal die emotionale Gewissheit, dass die Kampagne der Kirche gegen die Homo-Ehe oder die übertriebenen Keuschheitsregeln nicht göttlichen Ursprungs sein können.

Auf jeden Fall hat es nichts mit Intelligenz oder dem puren Austausch von Argumenten zu tun. Es ist nicht so recht vorhersagbar. Aber wer einmal die Perspektive verändert und die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass Jesus nur ein extremer jüdischer Endzeitprediger und Exorzist oder Joseph Smith nur eine abergläubische Disposition gehabt haben und ein Medium a la Edgar Cayce gewesen sein könnte, und dann richtig hinschaut, wird fast unweigerlich zur Dekonstruktion seiner bisherigen Glaubensvorstellungen gelangen. Und dann wird auch er sich wundern, warum ihm das all die Jahre zuvor nicht aufgefallen war und warum die anderen Mitglieder ihn nicht verstehen, sondern nur bemitleiden, bedauern und schlimmstenfalls verteufeln.