Eine Frage des Glaubens



Fiktiver Dialog zwischen Mo, dem gläubigen Mormonen, und Hu, dem Humanisten (klingt irgendwie netter als Atheisten) und ehemaligen gläubigen Mormonen:

Mo: Details über die Kirchengeschichte, Fragen nach der Historizität von Buch Abraham und Buch Mormon oder menschlichen Fehlern und Schwächen von Kirchenführern sind für mich nicht relevant. Spielen keine Rolle für meine Errettung. Denn mir  hat der Heilige Geist bezeugt, dass die Kirche wahr ist. Und meine geistigen Erlebnisse sind mir mehr wert als irgendwelche so genannte Fakten, die wir sowieso nicht ultimativ klären können.

Hu: Woher genau weißt du, dass es der Heilige Geist war, den du wie ich annehme durch ein Brennen im Herzen oder ähnliches gefühlt zu haben annimmst?

Mo: Als ich den Geist verspürt habe, habe ich es einfach gewusst. Das Gefühl war so machtvoll und stark, dass ich es mir unmöglich bloß eingebildet haben kann.

Hu: Du weißt natürlich schon, dass Gefühle durch innere und äußere Einflüsse ausgelöst werden können und es kein objektives und konkretes Kriterium gibt, um zu sagen, dass dieses Gefühl, was ich jetzt verspüre, eindeutig von einer göttlichen Quelle herrühren muss. Wir können nicht einmal genau zwischen inneren und äußeren Auslösern unterscheiden. Außerdem hängen erlebte Gefühle von unseren Erwartungen und Ansichten ab. Wenn ein Wanderer bspw. im Wald einen Baumstumpf auf den ersten Blick für einen Bären hält, wird er – sofern er Bären als potenziell gefährlich erachtet - plötzlich starke Angstgefühle und Schrecken empfinden. Das heißt, sein Erlebnis hängt stark davon ab, wie er etwas wahrnimmt und was er damit assoziiert. Unabhängig von der Realität dahinter. Wir erleben die Welt um uns herum nicht so wie sie ist, sondern so, wie wir geprägt sind. Wenn Mitgliedern ab Kleinkindalter eingeimpft wird, wie heilig und besonders der Tempel ist, so ist es völlig natürlich, beim Anblick eines Tempels ein Gefühl von Frieden, Andacht und Ehrfurcht zu erleben. Denn das ist unsere Assoziation und Erwartung in Bezug auf einen Heiligen Ort, wie wir ihn gelernt haben. Genauso ist es natürlich, im Gottesdienst Transzendenz bis hin zu Ekstase zu erleben oder mit Menschen mitzufühlen, die von bewegenden Momenten und Erlebnissen in ihrem Leben berichten. Das hat nichts damit zu tun, dass Geist zu Geist spricht, sondern mit den Spiegelneuronen, die uns Empathie empfinden lassen. Und Kribbeln oder Gänsehaut am Körper kann man auch verspüren, wenn man ein vollbesetztes Fußballstadion betritt. Auch das hat nichts mit irgendeinem Heiligen Geist zu tun. Wenn ich Kindern beibringe, was alles sündhaft und schlecht ist, werden sie, wenn sie damit konfrontiert werden, natürlich ungute Gefühle empfinden. Das hat nichts mit Licht Christi, Heiligem Geist oder Einflüsterungen von bösen Geistern zu tun. Das ist doch mittelalterlicher Aberglaube. Dass in uns teilweise widersprüchliche Interessen, Wünsche und Gedanken konkurrieren, hat nichts mit einem natürlichen Menschen, der ein Feind Gottes ist, zu tun. Wir sind nun mal eigennützig und gleichzeitig sozial als „rudellebende Säugetiere“. In uns wirken unbewusste Triebe und Instinkte, unser Gehirn schüttet ein Cocktail aus Stoffen aus: Serotonin sorgt für Glücksgefühle, Adrenalin und Dopamin sorgen für den Antrieb usw. Unser Belohnungssystem sagt: „Iss Schokolade.“ Ist es aus wirklichem Genuss oder gelerntem Reflex auf Frust? Der Mormonenglaube hinsichtlich guten und bösen Gedanken und Gefühlen ist da einfach naiv, stupide, realitätsfremd und manipulativ.

Mo: Für mich ist Glauben aber mehr als nur ein diffuses Gefühl, sondern wirkliches göttliches Wissen und Erkenntnis.

Hu: Je mehr wir darüber lernen, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet, desto skeptischer sollten wir sein, was das Gefühl des Wissens anbetrifft. Denn dieses ist tief mit unbewussten Vorgängen verbunden, die wie Liebe oder Wut unabhängig von der Vernunft funktionieren. Dafür kann das Gefühl, dass etwas richtig und real ist, wahnsinnig stark sein. So stark, dass es bei einer Konfrontation mit der Vernunft fast immer gewinnt. Denn unser Gehirn verarbeitet Informationen so, dass es unsere Gefühle rechtfertigt statt der Logik zu folgen. Wir überschätzen somit systematisch unsere Vernunft und unser kritisches Denkvermögen. Sich sicher sein, ist nur ein Gefühl und ist kein Beleg für Wahrhaftigkeit. Es kann bestehen bleiben selbst angesichts überwältigender gegenteiliger Beweise. Wie Psychologen herausgefunden haben, können Menschen mehr oder weniger alles glauben, vorausgesetzt, sie wollen oder wünschen es zu glauben. Das Gefühl einer Verbindung zu göttlichen Mächten und Personen kann durch spezifische soziale, kulturelle und emotionale Auslöser entstehen und ist real. Aber ist Gott damit auch real oder kann es sich um eine Illusion oder Selbsttäuschung handeln? Wie kannst du dir sicher sein, dass ein solches Gefühl von Gott stammt? Und genau beschreiben, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um dieses richtig als Bezeugung Gottes zu deuten?

Mo: Es ist wie, wenn du Salz schmeckst. Kannst du dann etwa genau sagen, was es ist, und den Geschmack beschreiben?

Hu: Salz ist jedoch eine reale Substanz, die objektiv untersucht werden kann, ebenso wie unser Geschmackssinn. Übrigens kann unser Geschmackssinn getäuscht werden, etwa durch den Erwartungen widersprechende Färbungen. Wir können somit guten Gewissens behaupten, etwas über die Substanz Salz und den biologischen Vorgang des Schmeckens zu wissen, in Bezug darauf, wie göttliche Offenbarung sich manifestiert, wissen wir hingegen nichts. Es gibt keinen objektiven Maßstab, um richtige von falscher Offenbarung zu unterscheiden, ebenso wie es keinen Maßstab gibt, um natürliche menschliche Gefühle von angeblichen göttlichen Eingebungen zu unterscheiden. Wenn wir also glauben müssen, dass ein bestimmtes Gefühl von Gott stammt, um zu beweisen, dass Gott existiert, haben wir einen klassischen Zirkelschluss und wissen letztlich nichts, außer dass wir auf eine bestimmte Interpretation eines Gefühls angewiesen sind, um an Gott zu glauben.
Wir wissen nicht, wie wir göttliche Offenbarung verlässlich identifizieren können. Ganz zu schweigen davon,  erklären zu können, wie eine Kommunikation mit einem in einem anderen Universum oder einer anderen Dimension existierenden Wesen in Echtzeit und zeitgleich mit Milliarden anderer Menschen möglich sein soll. Handelt es sich stattdessen nicht einfach nur um theologische Interpretationen natürlicher Phänomene? Um Wunsch-induzierte Halluzinationen, Auto-Suggestion, hypnotische Erfahrungen, Erinnerung an unbewusste Kindheitsgefühle des Geborgenseins, neurologische Fehlfunktion, Einbildung o.ä.
Wenn du als Mormone die überwältigende Schönheit der Natur als Zeichen für die Existenz Gottes erlebst und ich als Atheist dasselbe Erlebnis als Zeichen für die Majestät der Natur ohne Gedanken an Gott, wer hat dann Recht? Anhand welcher Kriterien sollten wir dies entscheiden können? Es ist doch eine völlig beliebige Interpretation und Zuordnung. Unspezifische und ambivalente Gefühle können doch niemals als Belege für Wahrheit dienen.
Und wie erklärst du dir, dass Menschen unterschiedlichster Religionen und Glaubensvorstellungen sich auf nahezu identische spirituelle Erlebnisse berufen?

Mo: Wie Joseph Smith gelehrt hat, gießt der Herr seinen Geist in den Letzten Tagen über alle Völker aus,  um sein Werk voranzubringen und Fortschritte in der Technik und Wissenschaft voranzutreiben. Außerdem gibt der Heilige Geist von Wahrheit Zeugnis. Und auch in anderen Religionen findet sich Wahrheit wieder, die der Heilige Geist bezeugt. Mormonen behaupten ja nicht, exklusiven Zugang zum Heiligen Geist zu haben, nur was die Gabe des Heiligen Geistes anbetrifft, also das Anrecht auf ständige Begleitung durch ihn.

Hu: Wenn jede Art der menschlichen Inspiration auf Gott zurückgeführt wird - von Kolumbus über Luther bis hin zur Entwicklung von Computern und Flugzeugen - und jedes Gefühl des Wunderns, Erstaunens, der Inspiration, Erkenntnis und Transzendenz, gewinnt man letztlich nichts und hat keinerlei Kriterien zur Verifikation göttlicher Zeugnisse. Die Argumentation, in jedem Glaube stecke ein wenig Wahrheit und davon gebe der Heilige Geist nur jeweils Zeugnis, könnte ja genauso auf die Mormonen zutreffen. Es bleibt die Frage: Wie können wir wissen, dass irgendjemand mit Gott spricht? Und Gott zu irgendjemand?

Mo: Wahre persönliche Offenbarung wird niemals den Grundsätzen widersprechen, wie sie in den Heiligen Schriften und durch unsere lebenden Apostel und Propheten gelehrt wird. Das ist ein guter Orientierungspunkt.

Hu: Problem ist nur, dass Präsidenten der Kirche immer wieder vorherige Lehren verändert, weggelassen, uminterpretiert und sogar widerrufen haben wie die Adam-Gott-Theorie. Warum hat Gott nie im Vorfeld offenbart, dass sich diese Lehren ändern werden?

Mo: Apostel und Propheten sind alle nur Menschen. Wir dürfen von ihnen keine Vollkommenheit im Verständnis und der Kommunikation göttlicher Wahrheit erwarten.

Hu: Der einzige Weg, um zu erfahren, ob eine Aussage von Kirchenführern göttlich inspiriert, richtig verstanden und kommuniziert wurde, ist also, wenn diese später nicht mehr revidiert wird. Das heißt aber im Umkehrschluss: Jede Aussage von Kirchenführern ist latent falsch bzw. fehlerhaft. Was ist dann aber die vermeintlich wahre Offenbarung wert?

Mo: Dafür hat dann wiederum jedes Mitglied Anrecht auf die Bestätigung durch den Heiligen Geist. So muss und sollte kein Mitglied blind den Kirchenführern folgen.

Hu: Glaube wird in der Kirche als irreversible Entscheidung erachtet, die man nicht kritisch in Frage stellt. Es wird gelehrt, mit der Taufe habe man ein Versprechen abgegeben, Gott gegenüber loyal zu bleiben, das man nicht ungestraft brechen kann. Dadurch wird massiver Druck ausgeübt, ebenso durch hervorrufen von Scham- und Schuldgefühle, indem jedweder Zweifel verteufelt wird. Zweifel wird als Glaubensschwäche dargestellt und als Zeichen der Abkehr von Gott und verursacht durch die Einflüsterungen Satans. Mormonen wird von Klein auf beigebracht, dass gute Gefühle, die sie in Versammlungen beim Singen oder Hören von Zeugnissen, beim Lesen Heiliger Schriften, beim Gebet verspüren, als Belege für die Wahrheit der Kirche zu verstehen sind. Und schlechte Gefühle als vom Teufel stammend oder als Warnung vor Bösem. Darüber hinaus wird gelehrt, dass keinerlei Information, Fakten oder Belege jemals die Wahrheit der Kirche widerlegen könnten. Damit Mitglieder bloß nicht ihren Glauben verlieren, müssen sie ständig auf der Hut sein, müssen sich und einander unablässig versichern, dass alles wahr ist. Du darfst dich nie ernsthaft fragen, ob du dich täuschst, ob du in die Irre geführt wurdest. Ja, du wirst sogar ermutigt, Dinge als wahr zu bezeugen, die du noch gar nicht selber als wahr erkannt hast. Wenn das man keine Form der Manipulation und Bewusstseinskontrolle ist.
Und du musst auch zugeben, dass in Ansprachen weniger die Fehlbarkeit von Kirchenführern betont wird als deren direkter Draht zum Himmel – a la „Folgt dem Propheten!“, „Der Prophet kann sein Volk nicht in die Irre leiten!“…
Apropos blinder Glaube und Gehorsam: Kannst du ehrlich sagen, dass Gott nicht das von dir verlangen könnte, was er vermeintlich von Abraham, Nephi oder Joseph Smith verlangt hat: nämlich entgegen den eigenen Moralvorstellungen zu handeln und anderen Menschen offensichtlichen Schaden zuzufügen? Würdest du nicht alles tun, wovon auch immer du überzeugt bist, dass Gott es von dir fordert? Bist du wirklich gegenüber Extremismus und Fanatismus gefeit?

Mo: Also jetzt mach mal einen Punkt! Du kannst uns Mormonen doch nicht als gefährlichen, schädlichen Kult darstellen, der Gehirnwäsche praktiziert und Andersgläubige verfolgt.

Hu: Zunächst einmal sollten wir festhalten, dass Mormonen behaupten, Kenntnis und Wissen von absolut verlässlichen ewigen Wahrheiten zu haben, obwohl sie sich nicht ernsthaft auf unfehlbare Schriften, Offenbarung oder Autoritäten berufen können. Glaube kann so unmöglich als Quelle von Wissen dienen. Jede Glaubensvorstellung müsste eigentlich als unsicher und fehleranfällig verstanden werden. Der Glaube beruht demnach nicht auf vernünftiger Auseinandersetzung mit den religiösen Aussagen. Stattdessen gründet sich dieser ausschließlich auf dem subjektiven Empfindung von Sinnhaftigkeit. Es ist alles nur Intuition und subjektive Interpretation von Emotionen. Und selbst wenn wir verlässlich wüssten, ob eine Erfahrung von Gott stammt, was genau wissen wir dann aufgrund dieses Erlebnisses? Denn doch allerhöchstens, dass irgendwas Wahres an den religiösen Vorstellungen dran ist. Nichts mehr und nichts weniger, wenn man bedenkt, dass Gläubige aller Arten von Religionen sehr ähnliche Erlebnisse für sich in Anspruch nehmen. Selbst für vermeintliche Erscheinungen und Stimmen gibt es mittlerweile natürliche Erklärungen. Psychologen haben beispielsweise gezeigt, dass starke Gefühlserlebnisse die Fähigkeit beeinträchtigen, die innere Stimme korrekt einzuordnen. Es gibt also keine konkreten Belege dafür, dass unsere Interpretation, ein spirituelles Erlebnis oder Gefühl stamme von Gott, richtig ist. Und wir können nicht wissen, falls es von Gott stammen sollte, was es konkret als wahr bezeugt. Warum wird dann in der Kirche so sehr auf Glaube verwiesen? Wie kann man auf so einer wackligen und fragwürdigen Grundlage deutlich gegenteilige Belege beiseiteschieben? Du musst dich deshalb auf Glauben berufen, weil es keine rationalen Gründe für die eigenen Überzeugungen gibt. Du vertraust auf etwas, obwohl es keine Belege gibt. Du erachtest etwas Absurdes für wahr. Du sprichst deshalb von Glauben, weil du Belege durch Emotionen ersetzen willst. Obwohl es nicht vernünftig ist, glaubst du. Obwohl du deinen Glauben nicht erklären und rechtfertigen kannst, glaubst du. Du glaubst an deinen Glauben. Glauben an Glauben ist aber sinnbefreit und doppelt irrational. Glaube hat nichts mit Wahrheit zu tun, sondern ist vielmehr Ausdruck deiner Entscheidung, deiner Liebe, Hingabe, deinem Vertrauen und persönlichen Verpflichtung. Ohne Sinn und Verstand. Reines Wunschdenken.

Mo: Falsch! Das Evangelium macht sehr wohl Sinn und gibt als einziges Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens: Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Was passiert nach dem Tod? Und Belege gibt es sehr wohl: Beispielsweise die Zeugen des Buch Mormons.

Hu: An der Oberfläche hast du Recht macht das Evangelium scheinbar Sinn. Hinterfragt man es jedoch, so fällt die Sinnhaftigkeit zusammen wie ein Haus aus Karten. Zum Beispiel: Warum sollte Glauben an Jesus Christus und an sein Sühnopfer notwendig sein, um errettet zu werden? Wir wissen nicht, wem wir und was wir für unsere so genannten Sünden schulden (außer denjenigen, denen wir möglicherweise Schaden zugefügt haben). Warum soll also das Sühnopfer notwendig sein? Warum kann Gott uns nicht einfach so vergeben, wenn er doch allmächtig ist? Und was genau war am Tod Christi notwendig, dass es ermöglicht, dass wir nach dem Tod wieder einen Körper erhalten können? Und wenn Gott selber gewissen ewigen Gesetzen gehorchen muss, was sind diese Gesetze und was macht sie ewig? Wie sollen wir an die Auferstehung glauben, wenn es dafür nicht einmal ansatzweise Belege gibt, ausgenommen sehr fragwürdigen und widersprüchlichen Berichten in der Bibel sowie durch Joseph Smith und seine Anhänger oder den natürlich erklärbaren Nahtoderlebnissen? Ist es vernünftig zu glauben, dass unsere auferstandenen Körper so aussehen wie unsere derzeit sterblichen? Wo doch unser Aussehen auf unsere individuellen Genmischungen über Eltern, Großeltern usw. zurückgehen? Oder gab es bei der Geistkinderzeugung im Himmel ähnliche genetische Vorgänge beim Gebären unsere Geistkörper wie hier auf der Erde? Wenn Menschen all dies so absurd finden, dass sie einfach nicht oder nicht mehr glauben können, wie können sie dafür verurteilt und verdammt werden?

Mo: Von Verdammung kann doch keine Rede sein. Fast alle Menschen werden in den Himmel kommen und einen Grad der Herrlichkeit empfangen.

Hu: Schon, aber wer will schon dienender Engel werden? Und wie erklärst du dir, dass die wenigsten Gebete beantwortet werden?

Mo: Manchmal lautet die Antwort eben „nein“ oder „jetzt noch nicht“. Denn Gott gibt uns, was für uns am besten ist, und das ist nicht immer das, wofür wir ihn bitten. Und manche Gebete werden auch nicht erhört, weil der oder die Betende nicht ausreichend demütig und gläubig ist oder sich nur in Notfällen an Gott wendet.

Hu: Das ist doch alles Unsinn. Beantwortete Gebete lassen sich auch natürlich erklären: Zufall, Anstrengung, Placebo-Effekte, selbsterfüllende Prophezeiung. Und wir behalten nur die Fälle im Kopf, in denen ein vermeintlicher Segen nach einem Gebet eintrifft und ignorieren die vielen Fälle, wo nichts passiert. Dann sollte es einfach nicht sein, war nicht gut für uns oder es war halt ein Test? So kann Gott nie verlieren. Letztlich rührt unser Bedürfnis nach Beten dem abergläubischen Wunsch nach Kontrolle und Einfluss auf unser Schicksal, gepaart mit dem unterbewussten, infantilen Bedürfnis nach Liebe, Akzeptanz, Schutz, Sinnhaftigkeit sowie Angst vor dem Tod. Wir projizieren unsere kindlichen Wunschvorstellungen auf einen liebenden Vater-Gott. Daher greift kein Gott ein, wo es das größte Leiden gibt, wo Kinder auf grausigste Weise millionenfach pro Jahr elendig verhungern.

Mo: Es ist sicherlich auch nicht leicht für Gott, das mit ansehen zu müssen, aber er darf nun einmal nicht in die Entscheidungsfreiheit der Menschen eingreifen, ohne den gesamten Plan zu zerstören.

Hu: Und deshalb hilft er wohl nur bei verloren gegangenen oder verlegten Schlüsseln und ähnlichem? Ich kann nicht begreifen, dass sich ein liebender Vater im Himmel systematisch vor seinen Kindern verstecken sollte. Was mir am meisten während meiner Dekonversion zu denken gegeben hat, waren weniger die Ungereimtheiten in der Kirchengeschichte oder im Buch Mormon, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass sich Joseph Smith genau so verhalten hat, wie man es natürlich von einem christlichen Sektenführer mit seinem Hintergrund erwarten durfte. Und die Mormonenkirche hat sich dann genau so etabliert und institutionalisiert, wie man es natürlich erwarten durfte, genauso wie die Entwicklung von den heidnischen Kriegsgöttern der israelitischen Bergvölker zum Monotheismus und nachher Christentum vollkommen natürlich im historischen Umfeld erklärbar ist. Ohne Gott macht alles viel mehr Sinn und man muss nicht krampfhafte Erklärungsversuche bemühen, um Josephs Liaisons, abgekupfertes Freimaurertum, Dinosaurierknochen, fehlende Schwerter in Mesoamerika usw. zu rechtfertigen.

Mo: Damit Glauben möglich ist, dürfen die Fakten nicht eindeutig sein. Es muss glaubhafte Argumente dafür und dagegen geben, so dass man sich frei für den Glauben entscheiden kann.

Hu: Nein, die Faktenlage ist nicht ausgeglichen. Zu glauben, dass der Schöpfer des Universums jeden unserer Gedanken kennt, ist genauso absurd wie die Idee, dass er mit uns kommuniziert, indem der Regen in Morsecode auf unser Fensterbrett tropfen lässt. Die Aussage „Es gibt den Osterhasen“ ist nicht gleich wahrscheinlich wie die Aussage „Es gibt keinen Osterhasen“. Nur weil es nicht gänzlich auszuschließen ist, dass es einen Gott gibt, weil man nicht beweisen kann, dass es etwas nicht gibt, ist es noch lange nicht wahrscheinlich und realistisch, dass es ihn gibt. Die pure Möglichkeit heißt noch lange nicht Wahrscheinlichkeit. Denkbar ist so gut wie alles. Das Universum könnte sich auch im Magen eines riesigen Pandabären oder vielleicht auch Ameisenbären befinden. Die Unmöglichkeit dessen zu beweisen, dürfte schwer fallen. Aber nur für den Fall, dass es diesen riesigen Panda- oder Ameisenbären tatsächlich gibt, diesen jetzt anzubeten und seltsame Unterwäsche zu tragen… Ich weiß nicht.

Mo: Sei bitte nicht respektlos. Denke mal daran, wie viel Gutes die Kirche bewirkt, wie vielen Menschen ihr Glaube Trost und Hoffnung gibt, wie es ihnen eine moralische Richtschnur ist. Ohne Glauben ist das ganze Leben doch sinn- und trostlos. Der Gedanke, nur ein Zufallsprodukt der Physik und Biologie zu sein, ist doch schrecklich.

Hu: Die Nützlichkeit eines Glaubens sagt nichts über dessen Wahrheitsgehalt aus. Wenn ich eine Religion ins Leben rufen würde, die die Zahnfee verehrt, könnte dies die Zahnhygiene fördern. Es bliebe jedoch dennoch eine Lüge oder Illusion.
Ob Mitglieder tatsächlich in ihrem Glauben so viel glücklicher sind, wenn man mal hinter die Fassaden und das sonntägliche Schaulaufen schaut, ist so eine Frage. Auch hier spielt sicher Auto-Suggestion eine große Rolle. Wenn man immer gesagt bekommt, wie gesegnet glaubenstreue Mitglieder sind, muss man sich ja zwangsweise als glücklich erklären, egal, ob man es tatsächlich ist.
Und man muss den potenziellen Schaden betrachten, den der Mormonenglaube mit sich bringt. Ein dogmatisches Regelwerk zweifelhaften Ursprungs wird uns als absoluter Wille Gottes verkauft. Mit Schuld- und Schamgefühlen werden wir in Schach gehalten und mit der Aussicht auf eine ewige, im Himmel glücklich wiedervereinte Familie geködert. Wer will schon seine Kinder und Ehepartner verlieren? Und dann wird noch unser tief in uns verankertes Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung durch unsere Eltern missbraucht, indem uns suggeriert wird, wir hätten himmlische Eltern, die wir doch wohl nicht enttäuschen wollen! Diese psychologische und emotionale Manipulation funktioniert unglaublich raffiniert unterschwellig und ist schwer zu durchschauen und zu durchbrechen. So opfern Mitglieder enorm viel Zeit und Geld und wollen nicht wahrhaben, dass sich die obersten Kirchenführer Villen und Wochenendhäuser im Wert von Millionen Dollar errichten, dass sie das Bild von Joseph Smith und den Ursprüngen der Kirche bewusst schönfärben, um die Mitglieder bei der Stange zu halten. Entsteht dadurch tatsächlich Schaden? Sicher leiden viele Mitglieder am Gefühl, nicht gut genug zu sein. Zweifeln an sich, weil Gebete nicht erhört und Priestertumssegen nicht in Erfüllung gehen. Sicher leiden viele an emotionalem Missbrauch durch das patriarchalische System. Sicher leiden Mitglieder über die Maßen mit homosexuellen Neigungen.
Klar, die meisten moralischen Werte sind gut und lobenswert. Ob kniefreie Hosen oder schulterfreie Tops, mehr als ein Ohrring pro Ohr, grüner Tee usw. Gott missfallen? Jede fundamentale, patriarchalische ist potenziell gefährlich: Was wenn doch wieder die Mehrehe eingeführt wird? Oder sonst ein Wahnsinn?
Wie viele Ehepartner und Eltern leiden unnötig, weil sich der Partner oder das Kind von der Kirche bewusst befreit oder inaktiv wird und sie glauben, sich nun noch mehr anstrengen zu müssen, um diese verlorenen Schafe zurück zu lieben oder zurück zu beten. Weil Kirche mit Familie gleichgesetzt wird, ist die ganze Familie betroffen.
Da bevorzuge ich es doch, mir meine eigenen Gedanken zu machen. Aus mir selbst heraus Gutes zu bewirken, ohne eine göttliche Belohnung oder ewigliche Strafe im Hinterkopf zu haben. Sinn in meiner Familie zu finden, das Leben zu genießen… Dafür brauche ich kein Gottesmärchen, muss mich nicht von einer kirchlichen Institution belügen lassen und Angst davor zu haben, mich mit kritischen Fragen auseinanderzusetzen oder die Arroganz besitzen, ohne ernsthafte Basis zu behaupten, ich sei im Besitz der vollen Wahrheit…