Gerne wird in der Kirche – besonders
beliebt auch in Generalkonferenzen – auf den Niedergang der klassischen
Familie, kriselnde Ehen und Werteverfall in der Gesellschaft hingewiesen.
Klar, Scheidungsraten sind in den
letzten 50 Jahren sicher gestiegen, ebenso wie der Anteil alleinerziehender
Eltern. Aber wird alles wirklich immer schlimmer? Und kann man wirklich
pauschal sagen, dass beispielsweise Ehen heutzutage labiler und Ehepartner
unglücklicher sind?
Die Antwort lautet: Jein!
Wie aktuelle Studien zeigen, sind
heutige Ehen im Durchschnitt schwächer als vor einigen Jahrzehnten, aber dafür
sind die besten Ehen deutlich stärker und die Partner glücklicher als in den
besten Ehen früher (so eine Meta-Studie der Universität Missouri, siehe http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1741-3737.2007.00393.x/abstract).
Stellt sich die Frage: Warum ist die
Schere größer geworden zwischen starken und schwachen Ehepartnerschaften?
Eine Antwort lautet: Ehen
funktionieren immer mehr nach dem Prinzip ‚alles oder nichts‘, weil die
Ansprüche an die Ehe gestiegen sind und nur diejenigen diese Erwartungen
erfüllen, die viel Zeit und Energie in die Partnerschaft investieren (können). So
sprechen Soziologen von drei Phasen der Rolle der Ehe in den letzten Jahrhunderten:
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte das so genannte institutionelle
Ehe-Modell vor, abgelöst vom kameradschaftlichem Ehe-Modell und schließlich vom
aktuell in der westlichen Welt vorherrschenden Selbstverwirklichungs-Modell. Das
alles recht analog zur wohlbekannten Maslowschen Bedürfnis-Pyramide. Während
die Ehe also heutzutage potenziell höhere Bedürfnisse erfüllen kann und soll,
ist das Erreichen dieser Ziele eben auch anspruchsvoller geworden.
Ein paar interessante Details:
- Ehepartner verbringen signifikant weniger Zeit miteinander gegenüber vor 40 Jahren, zurückzuführen auf gestiegene Zeit auf der Arbeit und zeitintensivere Elternschaft.
- Wachsende Schere zwischen arm und reich: in den 70er Jahren lag die 10-Jahres-Scheidungsrate bei 28% mit High-School- und 18% mit College-Abschluss; in den 90er Jahren schon bei 46% versus 16%.
- In einer Studie aus dem Jahr 1999 geht hervor, dass die Scheidungsrate unter Mormonen in USA bei 24% und damit im Durchschnitt liegt. Übrigens ist die Scheidungsrate bei fundamentalistischen Christen wesentlich höher, bei Agnostikern und Atheisten geringer.
- Laut anderer Studie beträgt die Scheidungsrate 12% bei Tempelehen und 21% bei nicht im Tempel verheirateten Mormonen sowie über 40% bei Gemischt-Mormonen-Nicht-Mormonen-Paaren. Im Durchschnitt demnach bei 25%, was wiederum ziemlich durchschnittlich ist.
- Die einfachere und sozial anerkanntere Scheidungsmöglichkeit geht einher mit 20% weniger Selbstmorden von Ehefrauen und signifikant weniger häuslicher Gewalt.
- Je mehr Partner einander in stereotypischen Rollen sehen, eine traditionelle Rollenverteilung praktizieren und Broterwerb und Kindererziehung nicht gemeinschaftlich betreiben, um so höher die eheliche Unzufriedenheit. Wobei in einer groß angelegten Umfrage überdurchschnittlich viele Mormonen-Ehefrauen sich als sehr glücklich verheiratet einschätzen, während Mormonen-Ehemänner von allen Religionen die geringste Zufriedenheit in der Ehe bescheinigen.
- In den USA sind verheiratete Ehen mittlerweile nur noch in rund 40% der Haushalte zu finden.
- Das Heiratsalter steigt kontinuierlich seit den 60er Jahren – und sogar stärker in Utah.
Was folgt daraus?
Nun, die Wirklichkeit ist einfach
komplexer als so mancher Kirchenführer uns glauben machen will. Nicht alles
wird immer nur schlimmer. Stereotypische Rollen und möglichst frühes Heiraten
zu propagieren, ist nicht unbedenklich. Die Zeit zurückdrehen geht auch nicht
und ein Rollenverständnis von vor 100 Jahren ist auch nicht wirklich
erstrebenswert. Siehe exemplarisch Brigham Youngs Einstellung zu Frauen als
Besitztümer und Warnung vor zu viel Zuneigung:
"Älteste, liebt eure Frauen niemals
ein Haarbreit mehr als sie das Evangelium beherzigen. Liebt sie nie so, dass
man sie bei Warnung nicht augenblicklich verlassen kann, ohne eine Träne zu
vergießen. Sollten Sie ein Kind mehr als das lieben? Nein. Hier sind Apostel und Propheten, die dazu
bestimmt sind, mit den Göttern erhöht zu werden, um Herrscher im Reich unseres Vaters
und gleich mit dem Vater und dem Sohn zu werden. Und hegen Sie unangebrachte Zuneigung
für irgendetwas jenseits dieses Reiches und seiner Herrlichkeit? Wenn Sie das
tun, bringen Sie Schande auf Ihre Berufung und Priestertum. In dem Augenblick, indem
Personen in dieser Kirche unmäßig Zuneigung für ein Objekt auf dieser Seite des
himmlischen Reiches entwickeln, bringen Sie Schande über ihre Aufgabe und
Berufung. Wenn Sie Ihre Ehefrauen und Kinder lieben, Ihre Pferde, Kutschen, Ihre
schönen Häuser, Ihr Hab und Gut, oder irgendetwas von irdischer Natur liebhaben,
bevor Ihre Neigungen zu stark geworden sind, warten Sie, bis Sie und Ihre Familie
für das ewige Leben versiegelt sind, und Sie sie wissen, dass sie Ihnen von
dieser Zeit an und für immer gehören.“ (Brigham Young, Journal of Discourses,
v. 3, S. 354)
Vielfach ist
es auch nicht möglich, alles gleichzeitig zu erreichen: niedrige
Scheidungsraten und ein hohes Maß an Erfüllung und Freiheit für die Mehrheit. Es
ist so ein wenig wie die Untersuchung der Ursachen für den starken Abfall an
Kriminalität in US-Großstädten. Ergebnis: Haupteinfluss hatte die Legalisierung
der Abtreibung. Das Rezept: weniger ungewollte Schwangerschaften, weniger
vernachlässigte Kinder und Jugendliche, weniger Gewalt. Einleuchtend, aber auch
zugleich unschön. Oder Studien, die zeigen, dass Ehepartner vielfach nach einer
Scheidung glücklicher und die Kinder häufig unglücklicher sind. Es gibt selten
einfache, klare Antworten und Lösungen, die alles und jedes besser machen.
Vielmehr sind die Zusammenhänge kompliziert und Lösungen erfordern ein Abwägen
unterschiedlicher Interessen und positiver versus negativer Folgen. Es war
niemals alles gut und das wird es vermutlich auch nicht werden. Aber vieles wird besser. Dazu ein großartiger, sehr
unterhaltsamer Beitrag:
Beziehungsweise
Hans Roslings Website:
Oder in
deutsch dieser Artikel:
Und der zugehörige Ignoranz-Test unter: