Wissen, glauben, fühlen




Habe kurz vor Weihnachten Robert Burtons Buch gelesen und war sehr angetan davon. Es beschäftigt sich mit der Frage, wie Gefühle des Wissens, der Korrektheit und des Überzeugtseins entstehen und was sie bedeuten. Die Kernbotschaft des Buches ist:
„Egal, wie sich Überzeugtsein anfühlt, es ist weder eine bewusste Entscheidung, noch ein Denkprozess. Überzeugtsein und ähnliche Zustände von ‚Wissen, was wir wissen‘ entstehen aus unfreiwilligen Vorgängen im Gehirn, die, wie Liebe oder Wut, unabhängig vom Verstand ablaufen.“

Burton zeigt, dass das Gefühl des Richtig- oder Wahrseins auch durch Stimulation unabhängig von einem Gedanken erlebt werden kann. Dabei kann man mit diesem Gefühl richtig aber auch falsch liegen. Wer hat nicht schon mal erlebt, dass er etwas gesucht hat und sicher glaubte, das Gesuchte an einen bestimmten Ort gelegt oder dort gesehen zu haben, um dann doch feststellen zu müssen, dass dies nicht zutraf.

Generell funktionieren Wissen und das Gefühl des Wissens unabhängig voneinander. Man sieht das beim Phänomen, wenn wir spüren, dass wir die Antwort auf eine Frage oder den Namen eines Ortes, Films oder einer Person eigentlich wissen, es uns ‚auf der Zunge liegt‘, wir dieses Wissen nur in diesem Moment nicht direkt abrufen können. Oder in Aha-Momenten, wo ein Zusammenhang endlich Sinn zu machen scheint oder uns die Lösung schließlich einleuchtet. Wir können plötzlich nicht nur die Antwort geben, sondern haben auch noch das Gefühl, die Lösung zu verstehen. Es macht ‚Klick‘. Andererseits passiert es Schülern mitunter, dass sie zwar schulische Aufgaben in Physik oder Mathematik lösen können, jedoch keinerlei Gefühl des Verstehens erleben.

Faszinierend ist, was passiert, wenn Wissen und das Gefühl des Richtig- oder Wahrseins in Konflikt geraten. Das zeigt sich unter anderem beim so genannten Cotard-Syndrom. Die von diesem bizarren Syndrom Betroffenen sind davon überzeugt, tot zu sein. Sie glauben fest daran, auch wenn man argumentiert, dass sie ja noch sprechen oder ihre Herzfunktion wahrnehmen können. So gab ein Betroffener zwar zu, es sei seltsam, dass er noch sehen, hören und sprechen könne – aber das änderte nichts an seiner Überzeugung.

Ähnlich verhält es sich mit Menschen, die an Xenomelie bzw. ‚Körper-Integritäts-Identitäts-Störung‘ leiden und ein Körperglied loswerden wollen, das sie als nicht zu ihnen gehörend empfinden. Ein gemeinsames Merkmal mit dem Cotard-Syndrom ist, dass der Konflikt zwischen Logik und einem gegenteiligen Gefühl zugunsten des Gefühls gelöst wird. Anstatt Ideen und Überzeugungen, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen, abzulehnen, nutzen Betroffene trotz überwältigender gegenteiliger Beweise die verquersten Argumente, um ihre Überzeugung, ihr Gefühl des Richtig- oder Wahrseins, zu rechtfertigen.

Nun mag man einwenden, dass bei derartigen Störungen die Gehirnareale für rationales Denken und Abwägen beeinträchtigt sein könnten. Allerdings kann man auch bei psychisch gesunden Menschen erleben, wie Überzeugungen gegenüber Wissen den Vorzug erhalten. So wurden Studenten zeitnah nach dem Challenger-Unglück gebeten, aufzuschreiben, was sie im Augenblick des Unfalls getan hatten. 2 1/2 Jahre später wurden sie erneut hierzu befragt mit dem Resultat, dass 25% der Studenten erheblich unterschiedliche Erlebnisse beschrieben, mehr als 50% geringe Abweichungen und weniger als 10% keine Abweichungen in ihren Berichten aufwiesen. Soweit nicht sonderlich überraschend, wissen wir doch, wie sich Erinnerungen im Nachhinein verändern können. Faszinierend war jedoch die teilweise extreme Reaktion, als man die Studenten auf die Diskrepanzen aufmerksam machte. Besonders deutlich war der Kommentar eines Studenten: „Das ist meine Handschrift, aber das ist nicht, was passierte.“

Eine intensive Form des Gefühls des Wissens, der Erkenntnis, der Klarheit, des Sinn-Machens wird bei religiösen Erlebnissen und mystischen Zuständen beschrieben. In Experimenten konnten Wissenschaftler durch verschiedene Stimulanzien ähnliche Erlebnisse und Gefühle von Reinheit und gefühlter Wahrheit hervorrufen. Für William James waren die Erlebnisse nach Experimenten mit Chloroform so real, dass er trotz des Wissens um die eingesetzten Drogen sich schwer tat, sie nur als Illusion und chemische Reaktion im Gehirn zu akzeptieren:
„Ich kann die Ekstase, die ich fühlte, nicht beschreiben. Als ich dann nach und nach von dem Einfluss der Betäubung erwachte, kehrte der alte Sinn für mein Verhältnis zur Welt zurück und das neue Gefühl von meiner Beziehung zu Gott begann zu verblassen. . . . Komm mal damit klar, Reinheit und Geborgenheit und Wahrheit und absolute Liebe verspürt zu haben, und dann festzustellen, dass ich doch keine Offenbarung hatte, sondern durch die abnorme Erregung meines Gehirns betrogen wurde. Dennoch bleibt die Frage. Ist es möglich, dass der innere Sinn für die Realität. . . keine Täuschung war, sondern eine tatsächliche Erfahrung? Ist es möglich, dass ich fühlte, was einige der Heiligen beschrieben haben als das Gefühl für die unbeweisbare, aber unbestreitbare Gewissheit von Gott?“

Wie stark dieses sich richtig und wahrhaftig Anfühlen ist, zeigt auch die Geschichte von John Nash, der für seine Spieltheorie den Nobelpreis erhielt und dessen Leben in ‚A Beautiful Mind‘ verfilmt wurde. Denn der geniale Mathematiker litt an paranoider Schizophrenie, die sich in Wahnvorstellungen über Außerirdische äußerte, als deren einziger menschlicher Agent, er, Nash, die Welt retten müsse: „Ich begann zu glauben, ein Mann von großer religiöser Bedeutung zu sein“, sagt Nash später. Er habe Stimmen in seinem Kopf gehört und unter Verfolgungswahn gelitten. Er lehnte eine Professur am MIT mit der Begründung ab, er sei auserwählt, der Herrscher der Antarktis zu werden. Als ein Kollege ihn fragte, wie ein so brillianter und logischer Mensch wie er so einen Nonsens glauben könne, antwortete er, dass es sich eben richtig anfühle.

Spannend ist die Theorie Burtons, welche evolutionäre Rolle in der menschlichen Entwicklung das Gefühl des Richtig- oder Wahrseins gespielt haben könnte. So wissen wir ja, dass Menschen und Tiere durch Belohnungssysteme im Gehirn zum Handeln angetrieben werden, indem Endorphine wie Dopamin ausgeschüttet werden. Wie sieht nun das Belohnungssystem für Gedanken und geistige Anstrengungen aus? Klar ist, das Gefühl des Richtig- oder Wahrseins ist wesentlich fürs Lernen. Umgekehrt kann uns das Gefühl, das etwas nicht richtig ist oder stimmt, frühzeitig vor Gefahren warnen. Insbesondere aber, als der Mensch abstraktere und komplexere gedankliche Vorgänge entwickelte, brauchte er ein Belohnungssystem, um ihn zu motivieren, bestimmte Gedankengänge weiterzuverfolgen und andere zu verwerfen. Wie beim Kreuworträtsel oder Puzzle geht es darum, nicht erst ganz am Ende belohnt zu werden und sich gut zu fühlen, sondern mit jedem gefundenen Wort und passendem Teil. Um eine Idee längere Zeit zu verfolgen, sei es im künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereich, benötigen wir immer wieder ein Gefühl von Sinn, Wert und auf dem richtigen Weg zu sein. Wird nun ein Gedankengang häufiger positiv belohnt durch ein Gefühl des Richtig- oder Wahrseins, bildet sich eine neuronale Verbindung im Gehirn, die schließlich nur noch schwer aufgelöst werden kann. Man ist fortan von der Idee überzeugt. Und das Gehirn wird weiterhin Belohnungsstoffe aussenden, wenn die Idee bestärkt wird. Wie wir wissen, operieren diese Belohnungsstoffe ähnlich wie Speed oder Kokain. Es wundert also nicht, wenn Menschen wie Drogenabhängige an den unsinnigsten Vorstellungen festhalten. Wir wollen möglichst recht behalten und nichts ist schlimmer als beispielsweise nach einer teuren Anschaffung zu erfahren, dass Andere mit dem erworbenen Produkt schlechte Erfahrungen gesammelt haben.

Es hat also mit der evolutionär ausgebildeten Chemie in unseren Köpfen zu tun und vielleicht auch mit der Erziehung. Denn unser Bildungssystem fördert auch eher ein Schwarz-weiß-Denken mit Aufgaben, die nur ein richtig oder falsch beziehungsweise eindeutige Antworten zulassen. Wenn die grundlegende Ausrichtung der Bildung ‚Richtigkeit‘ und nicht den Erwerb eines Bewusstseins für Wahrscheinlichkeiten, Unklarheiten und die zugrunde liegenden Widersprüche zum Ziel hat, ist es leicht zu sehen, wie das Gehirn Belohnungssysteme formt, die Gewissheit der Offenheit und einfache Antworten der Mehrdeutigkeit vorziehen. Das Gefühl des Richtig- oder Wahrseins ist somit der Freund des langfristigen Untersuchens und Lernens, aber der Feind der mentalen Flexibilität.

Empfindungen des Glaubens, Wissens, das Gefühl des Richtig- oder Wahrseins, spirituelle Erlebnisse wie plötzliche Gefühle von Bewusstsein, Erkenntnis, Sinn und Verbundenheit sind wie wir sehen können miteinander verwandt und äußerst komplex. Sie werden nicht bewusst gesteuert und können nur begrenzt bei sich selber beobachtet und bewertet werden. Sie sind jedoch real und Teil von uns allen. Sie sind nicht als irrational abzuwerten, aber auch mit Vorsicht zu betrachten, da sie manipulierbar sind und zu Verzerrungen neigen. Gedanken bestehen gewissermaßen aus zwei Komponenten: der Information des Gedankens und der unbewussten Beurteilung des Gedankens in Form eines Gefühls. Das Gefühl selber ist kein Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit. Das Gefühl, das etwas richtig ist, ist nicht dasselbe wie Belege und Beweise, dass etwas stimmt.

Die Vorstellung eines autonomen, rationalen Verstandes ist genauso ein Mythos wie die eines vom Körper losgelösten, eigenständigen Geistes oder Bewusstseins. Keine Art von wissenschaftlicher oder sonstiger Aufklärung wird diese Empfindungen zunichtemachen und auch nicht den Cocktail aus bewussten und unbewussten Vorgängen in unserem Gehirn auflösen können. Es ist auch ein Illusion zu glauben, wir könnten durch Fakten Vorurteile und irrsinnige Vorstellungen besiegen. Wir lernen eben nicht durch Fakten, sondern durch emotionale Erfahrungen. Dennoch gilt es, das Gefühl der Überzeugung und des Glaubens als das anzuerkennen, was es ist, nämlich eine unbewusste Empfindung. Wie es auch Charles Darwin tat: „Der Zustand des Geistes, die ich früher bei großen Landschaften empfunden habe und die eng mit dem Glauben an Gott verbunden waren, unterschied sich nicht wesentlich von dem, was oft das Gefühl der Erhabenheit genannt wird. Und wie schwierig es auch sein mag, die Entstehung dieses Gefühls zu erklären, so kann es kaum als Argument für die Existenz Gottes dienen, so wenig wie das mächtige aber vage und ähnliche Gefühl, welches durch Musik angeregt wird.“

Darwin war klug genug, die Quelle seines ehemaligen Glaubens an Gott als eine psychische Empfindung anzuerkennen, die kein Bezug auf eine externe Realität hatte. Aber er war ebenso skeptisch in Bezug auf die Fähigkeit der Vernunft, das Universum zu entschlüsseln. Wie Stephen Jay Gould es ausdrückte: „In der Wissenschaft kann ‚Fakt‘ nur in einem solchen Maße bestätigt bedeuten, dass es pervers wäre, vorläufige Zustimmung zu verweigern.“

Absolutes Wissen und Gewissheit ist biologisch nicht möglich. Absolutheitsansprüche sind mit für die größten Probleme der Menschheit verantwortlich. Wir müssen lernen (und unsere Kinder lehren), die Unannehmlichkeiten der Unsicherheit zu akzeptieren. Die Wissenschaft hat uns Methoden zur Analyse von Wahrscheinlichkeiten gegeben. Das muss reichen. Der Glaube an absolute Gewissheit führt zu Katastrophen. Wie Richard Feynman erklärte: “Ich kann mit Zweifeln und Unsicherheit und Unwissenheit leben. Ich habe ungefähre Antworten und mögliche Glaubensansichten sowie unterschiedliche Grade der Gewissheit von unterschiedlichen Dingen […] Das macht mir keine Angst.“


Außerdem sollten wir gerade, wenn Fakten und Belege unserem Gefühl zuwider laufen, sehr vorsichtig sein, auch wenn objektive Selbst-Reflexion unmöglich ist. Vielleicht hilft es, zu wissen, dass wir zum Bevorzugen des Gefühls gegenüber Fakten und Belegen neigen, wenn Konflikte auftreten.  Bei allem Wissen und Unwissen ist die Frage, ob es einen Gott gibt, vermutlich ziemlich irrelevant, lässt sich auf jeden Fall kaum klären - siehe dieses klasse Video: http://aeon.co/video/philosophy/what-do-we-need-to-know-a-short-film-about-knowledge/