Macht´s gut und Danke für den Fisch!



Ist es egoistisch, von der Kirche eine öffentliche Entschuldigung für ihre Täuschungen zu fordern? Ist es gerechtfertigt, gläubige Mitglieder aktiv auf die Täuschung aufmerksam zu machen? Wer sich mit dem Gedanken trägt, seinen ‚Glaubensverlust‘ anderen mitzuteilen, sollte sich vorher ehrlich Rechenschaft über seine Motive ablegen. 
Da gibt es das Motiv der Rache, es der Kirche heimzahlen zu wollen. Wir können aber auch nach dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ handeln wollen, wenn wir unser Wissen teilen, in der Hoffnung, sich nach der Mitteilung selber bestätigt und besser fühlen zu können. Beides sind verständliche aber egoistische Motive.

Im Grunde gibt es nur vier wirklich gute Motive, um den Betrug der Kirche offenzulegen: 
1. Wenn man der ehrlichen Überzeugung ist, dass ein anderer Mensch einen Anspruch darauf hat, die wahren Hintergründe zu kennen, weil dadurch sein Selbstbestimmungsrecht wiederhergestellt wird. 
2. Wenn man glaubt, dadurch die Beziehung mit dem Partner, Familienangehörigen oder Freunden retten oder wiederherstellen zu können. 
3. Wenn man seine eigene Integrität, seine psychische Gesundheit oder die des anderen und sein seelisches Gleichgewicht in Gefahr sieht. 
4. Wenn man durch die Offenlegung Schäden oder Schmerzen abzuwenden glaubt, die den Schmerz des Glaubensverlustes sowie von Zerreißproben und Beeinträchtigungen für Beziehungen überwiegen.

Man sollte sich jedoch keine Illusionen machen, was die Wirkung auf andere noch Gläubige anbetrifft. Und man sollte gut abwägen, wie und wem gegenüber ein Enthüllen angebracht ist.
In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob eine öffentliche Entschuldigung der Kirche wirklich beim  Verzeihen der Betrogenen helfen oder nur noch mehr unnötigen Schmerz verursachen würde. Also, ob die Kirche ihren Kurs langsam und behutsam ändern oder mit einer konsequenten Maßnahme umkehren sollte.
Grundsätzlich sollte die Kirche das praktizieren, was sie den Mitgliedern lehrt, nämlich Umkehr und „tu was ist Recht, lass dich Folgen nicht sorgen“. 

Der Psychotherapeut Michael Cöllen nennt fünf wichtige Schritte im Umgang mit Betrug: 
1. Der Schmerz: Am Anfang steht die Verletzung. Es ist wichtig, dass der Betrogene und Belogene seinen Schmerz ausdrücken kann und den Verantwortlichen damit konfrontieren darf. 
2. Die Transparenz: Der Geheimnisträger muss bereit sein, über seine innersten Beweggründe zu sprechen: Wie ist das Geheimnis entstanden? Welche Erklärung gibt es dafür? Welche Muster haben dazu geführt, dass geschwiegen und vertuscht wurde? So wird das Verständnis füreinander gefördert.
3. Die Vergangenheit: Der Betrogene muss die Wahrheit offenlegen und für Aufklärung sorgen. 
4. Die Bitte: Der Betrüger muss den anderen glaubhaft um Verzeihung bitten. 
5. Die Veränderung: Wer einen Fehler gemacht hat und hofft, dass der andere ihm verzeiht, kann nicht einfach so weitermachen wie bisher. Er muss vielmehr durch ein verändertes Verhalten den anderen von seinem guten Willen überzeugen. 

Die Kirchenführer stehen dabei vor einer großen Herausforderung. Eigentlich wäre es angebracht, bedingungslos alles offenzulegen, nichts mehr geheimzuhalten, die volle Verantwortung für die Täuschungen zu übernehmen. Das heißt, sie dürfen sich nicht herausreden, sich nicht rechtfertigen, sondern müssen ehrlich bereuen und jede erdenklich Anstrengung unternehmen, um Vertrauen wieder aufzubauen. Aber sie haben Angst, damit den Großteil der Gläubigen zu verprellen.

Unabhängig davon, was eigentlich die moralische Verpflichtung der Kirche wäre, müssen wir Betrogenen einen Weg der Heilung und des Verzeihens finden. Der erste Schritt ist immer, dass der Schmerz benannt und aus der Tabuzone geholt wird. Wird die Verletzung geleugnet oder verdrängt, kommt nichts in Gang. Psychische Verletzungen müssen wie jede Wunde pfleglich behandelt und gereinigt werden. Erst dann kann man ein Pflaster draufkleben. Wenn das Opfer schnell wieder das, was passiert ist, unter den Teppich kehrt, erweist es sie sich damit keinen Dienst.  Alles, was tabuisiert wird, blockiert die Weiterentwicklung. Das Schweigen verhindert jede Auseinandersetzung und macht die Chance auf Heilung zunichte. Verzeihen ist ein Prozess, der Mut und Zeit braucht. Denn wer gerade erfahren hat, dass er durch die Kirchenführer systematisch betrogen worden ist, ist erst mal wütend und verletzt und meilenweit davon entfernt zu verzeihen.
Es ist ähnlich furchtbar, wie wenn Kindern verschwiegen wird, dass sie adoptiert sind, und sie es später herausbekommen oder wenn eine Frau mit Mitte zwanzig erfährt, dass der Mann, den sie für ihren Vater gehalten hat, gar nicht ihr Vater ist. Wer ein solches Geheimnis aufdeckt, fühlt sich ähnlich hinters Licht geführt, zweifelt an sich und der Welt und weiß nicht mehr, was er noch glauben kann
Wenn man herausfindet, dass man jahrelang betrogen wurde, verliert man die Orientierung und steht im Nebel. Quälende Fragen tauchen auf: Wer bist du überhaupt? Habe ich mir etwas vorgemacht? Wer bin ich, wenn vieles, woran ich geglaubt habe, nie gestimmt hat? Habe ich in einer Scheinwelt gelebt?
Alles, was bislang mein Leben ausmachte, wird in Frage gestellt. Wenn man entdeckt, dass man so grundlegend belogen und betrogen wurde, schwankt die Erde; man wird regelrecht von den Beinen gefegt.  Die Realisierung, dass die vormals respektierten und bewunderten Kirchenführer, denen man vertraut hat, systematisch Informationen vorenthalten und manipuliert haben, verstört, kränkt, verletzt zutiefst. Von einem Moment auf den anderen steht alles infrage: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. In diesem Ausnahmezustand versteht man die Welt nicht mehr. Es führt zu einer Zerreißprobe in den Beziehungen, sie stellen unsere Identität infrage und verunsichern uns zutiefst. Wie konnte ich mich all die Jahre so irren? War alles eine große Täuschung? Habe ich mein ganzes Leben auf Sand gebaut? Zu allem Elend muss man sich nun auch noch dumm und gutgläubig fühlen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht auf unsere Fähigkeit vertrauen können, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden. 
Die Entdeckung der Täuschung verstört also auf zweierlei Weise: Erschüttert wird das Vertrauen, das man in die Kirche gesetzt hat. Erschüttert wird aber auch das Vertrauen zu sich selbst. Man muss jedoch verstehen, dass man in einen „Zustand der Ignoranz“ gezwungen wurde, denn man kann ja nicht wissen, was man nicht weiß. Höchstens gespürt hat man, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber weil dieses „Spüren“ äußerst unangenehm war, ging man diesem Gefühl nicht nach. Später, wenn man die Wahrheit kennt, macht man sich Vorwürfe: Hätte ich es nicht besser wissen müssen? Wie konnte ich nur so dumm sein? 
Selbstanklagende Fragen wie diese erschweren jedoch das Weiterleben nach der Wahrheit. Man sollte mit sich nicht so hart ins Gericht gehen, sondern sich stattdessen um Verständnis für sich selbst bemühen. Denn es gibt immer gute Gründe, nicht wissen zu wollen – und unsere Seele kennt Mittel und Wege, die vor zu schmerzhafter Wahrheit schützen. So ‚hilft‘ uns beispielsweise die sogenannte kognitive Dissonanz: Wenn wir einmal eine Entscheidung getroffen haben, wollen wir daran glauben, dass es eine gute war. Wir wollen über uns selbst als klug und richtig liegend denken. Eine neue anderslautende Information widerspricht diesem Glauben, stellt ihn infrage. Lassen wir diese Information zu, erleben wir einen kognitiven Zwiespalt, den wir als belastend und schmerzhaft empfinden. Deshalb wollen wir sie nicht wahrhaben. Für diesen Prozess stehen uns seelische Abwehrmechanismen zur Verfügung. Mit dem Mittel der „Verleugnung“ beispielsweise weigern wir uns – bewusst oder unbewusst –, bestimmte Situationen und Ereignisse so zu sehen und zu akzeptieren, wie sie sind. Wir biegen uns die Realität zurecht, damit sie erträglicher wird. Oder wir praktizieren den Abwehrmechanismus „selektive Wahrnehmung“ und achten nur auf das, was in unser Bild passt. 
Auch der so genannte ‚Sunk Cost Effect‘, der Effekt der versenkten Kosten, kann erklären, warum wir davor zurückschrecken, die Wahrheit aufzuspüren. Wenn man für ein Ziel, ein Projekt viel investiert und hart dafür gearbeitet hat, dann wünscht man sich verständlicherweise, dass sich das Ganze lohnt. Bemerkt man Anzeichen dafür, dass man einen Irrweg eingeschlagen hat oder die Situation eine negative Entwicklung nimmt, will man es oft nicht wahrhaben. Nach dem Motto „Jetzt habe ich schon so viel dafür getan, jetzt kann ich das doch nicht einfach loslassen“ halten wir am angestrebten Ziel fest. Wenn der Effekt der versenkten Kosten am Werke ist, blendet man wichtige Fragen aus und übergeht sein Bauchgefühl, das oft ganz anderer Meinung ist. Man will nicht wahrhaben, dass sich die Grundvoraussetzungen geändert haben, dass das gewünschte Ziel möglicherweise längst unerreichbar geworden ist und alle weiteren Anstrengungen nicht mehr fruchten. 
Wenn die Wahrheit auf dem Tisch liegt, ist das bisherige Skript unseres Lebens an einem vorläufigen Ende angekommen. Alles, was vor der Enthüllung unsere Identität geformt und den Sinn unseres Lebens definiert hat, muss im Lichte des neuen Wissens betrachtet und neu formuliert werden. Wir sind gezwungen, unser Lebensdrehbuch neu zu schreiben und den erlittenen Verrat zu integrieren. Eine Revision der eigenen Geschichte steht an. 

Wie wichtig ein Perspektivenwechsel nach einem schwerwiegenden „Ereigniseinbruch“ ist, betonen die Psychologen Charles S. Carver und Michael F. Scheier. Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Thema ‚Scheitern‘ auseinandergesetzt und stellen fest: „Wenn ein Weg verschüttet ist, wird ein anderer sichtbar. Indem ein nicht erreichbares Ziel aufgegeben wird, gleichzeitig aber ein anderes gewählt wird, bleibt die Person in einer Vorwärtsbewegung. Das Leben hat weiterhin einen Sinn. Die Bereitschaft, einen Wechsel vorzunehmen, wenn die Umstände es erfordern, ist eine wichtige menschliche Stärke.“ Die Wahrheit zu kennen, auch wenn man sie noch so sehr fürchtet, ist besser als an der Selbsttäuschung festzuhalten. Man muss keine Angst vor der Wahrheit haben, wie sehr sie auch verletzen mag. Das Leben geht weiter. Wir können das Gute aus der Kirche bewahren und uns neu erfinden, neu definieren. Wir sind dann stärker, weil wir um unsere Schwächen und eingebauten Selbsttäuschungsmechanismen wissen. Wir können gleichzeitig mit Gläubigen und Abtrünnigen mitfühlen und uns in sie hineinversetzen. Wir können uns von weiteren Dogmen, Märchen, Wunschglauben, Ideologien, Vorurteilen usw. befreien. Wir können der Kirche in Gedanken den Mittelfinger zeigen und sagen: „Fuck you!“ oder auch etwas dezenter: „Macht’s gut und danke für den Fisch!“ in Anlehnung an Douglas Adams Meisterwerk ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘ (Teil IV).