Wenn gute Früchte als Beleg für Göttlichkeit herangezogen werden - also das Argument: es ist wahr, weil es gute Früchte hervorbringt - stellen sich folgende zwei Fragen:
1. Sind gute Früchte eine notwendige oder hinreichende Bedingung für Wahrheit? Oder besser gesagt: Folgt aus den erzeugten Früchten immer, dass das zugrundeliegende Glaubenssystem des Früchtebringers wahr ist? Wohl kaum. Denn gute Früchte können auch durch Manipulation und Druck oder aufgrund falscher Annahmen entstehen. Zwei Beispiels mögen dies illustrieren: Wenn ich vor Weihnachten meinen Kindern damit drohe, dass die Helfer des Weihnachtsmanns sie beobachten und nur brave Kinder beschenken, könnte dies zu verstärkten Anstrengungen führen, das Zimmer aufzuräumen oder das Gemüse zu essen. Ist das dann ein Beweis dafür, dass es den Weihnachtsmann doch gibt? Oder angenommen: Ich gründe eine Religion, die die Zahnfee verehrt und das tägliche Zähneputzen zum Glaubensgrundsatz erklärt. Mögliche Folge: die Zahnhygiene der Anhänger verbessert sich. Ist dies ein Beleg für die Wahrheit der Zahnfee-Religion? Doch lediglich des unmittelbar angewandten Verhaltens des Zähneputzens. Was das gute Verhalten motiviert hat, kann damit noch lange nicht als wahr erkannt werden.
Damit einhergehend: Ist es moralisch okay, gute Früchte durch Zwang oder Manipulation oder Täuschung zu fördern. Darf der Arzt ein Placebo verschreiben, wenn es meistens hilft? Dürfen Religionen Höllenqualen und Strafen androhen, göttliche Überwachungsmechanismen suggerieren oder Segen im Übermaß nach diesem Leben in Aussicht stellen, um positives Handeln zu fördern, wenn dies nur auf steinzeitlichen Mythen beruht?
2. Wie muss das Verhältnis zwischen guten und schlechten Früchten sein, um eine Organisation oder Glaubenssystem als gut bezeichnen zu können? Will heißen: Kein System wird ausschließlich und immer nur gute Früchte hervorbringen. Wie genau sieht der Maßstab also aus? Muss es nur für die Mehrheit der Mitglieder eine positive Netto-Auswirkung geben? Selbst schlimmste Unterdrückungssysteme hatten schließlich auch positive Seiten. Ganz nach dem Motto: "Es war nicht alles schlecht in der DDR oder unter Hitler." Nun würde ich behaupten, dass sich die Mormonenkirche bei den meisten Mitgliedern positiv auswirkt. Aber es gab und gibt auch extreme und kleinere Übel, die man nicht unter den Teppich kehren darf. Zu den extrem üblen Auswüchsen gehören sicherlich das durch Mormonenführer begangene Mountain Meadows Massaker sowie die Vielehe, die für viele Frauen schrecklich war. Und wenn ich an meine Vergangenheit in der Mormonenkirche denke, war ich sowohl Opfer als auch Mittäter von negativen Seiten des Mormonentums - auch wenn dies, wie gesagt eher die Ausnahme darstellt - zumindest nach meiner Erfahrung. So musste ich etwa als Zeigpräsident Gespräche über Masturbation führen oder eine arme alleinstehende Schwester in einem Kirchengericht verurteilen, weil sie nicht sanktionierten Sex hatte. Selber wurde ich von einem Bischof als junger Teenager mit Masturbationsvorwürfen konfrontiert. Auf Mission habe ich Hard Selling-Praktiken gelernt und sehe das aus heutiger Sicht schon als Missbrauch.
Und selbst wenn man selber in der Kirche fast ausschließlich positive Erfahrungen macht, wird man gleichzeitig zum mittelbaren Mittäter wenn es um die Behandlung von Homosexuellen geht oder dem Leid, was die Kirche in Afrika verursacht, wenn polygame Männer gezwungen werden, als Mitglieder ihre Frauen zu verstoßen. Oder wenn Mädchen auf EFY-Veranstaltungen genötigt werden, sich hinzuknien, um die Rocklänge zu überprüfen. Und ihnen dann mittels emotionaler Musik und Massensuggestion vorgetäuscht wird, sie würden den Heiligen Geist verspüren. Usw.