Man mag es als positives Signal sehen, dass Präsident
Uchtdorf denen Respekt zollt, die sich ernsthaft kritisch mit den Lehren und
der Geschichte der Mormonen auseinandersetzen. Oder ist es nur die 3. Phase des Umgangs mit dem wachsenden "Abfall vom Glauben":
1. Phase der Leugnung und Vertuschung: Eine seriöse,
glaubhafte Geschichte wird konstruiert und alle kritischen Aspekte unter den
Teppich gekehrt.
2. Phase der Verteufelung und Herabwertung: Kritische
Stimmen werden als Anti-Mormonen und vom Teufel inspiriert oder verführt
verunglimpft oder deren Standpunkte als lächerlich abgetan.
3. Phase der kognitiven Inokulation: um zu verhindern, dass
Mitglieder von kritischen Aspekten überrascht werden und sich betrogen fühlen,
wird ein Schutzmechanismus antrainiert.
Aufgrund des Internets funktionieren die ersten zwei
Strategien nicht mehr. Es ist mehr und mehr klar, dass es sich nicht um
anti-mormonische Propaganda handelt, wenn die Art und Weise, wie die Kirche
ihre Entstehungsgeschichte darstellt, in Frage gestellt wird. Und nicht nur die
Kirchengeschichte, sondern auch der Ursprung wesentlicher Lehren und Praktiken sowie
der Historizität der Heiligen Schriften. FAIR & Co. haben gezeigt: auf
einer sachlichen Ebene kann die Kirche nur verlieren, denn es gibt keine
wirklichen Antworten und Rechtfertigungen, die bei tieferer Recherche
standhalten. Also bleiben nur noch folgende Möglichkeiten:
- Verlagerung der Argumentation auf die emotionale Schiene:
Vertraue deinen Gefühlen, höre nicht auf Fakten.
- Entschuldigung durch menschliche Fehler und Schwächen in
der Vergangenheit. (Die Möglichkeit von Fehlern gilt natürlich nicht für die
derzeitige Position im Hinblick auf Homosexualität u.ä.)
- Relativierung von kritischen Fakten und Rechtfertigung
ihrer Ignorierung. „Zweifle an deinen Zweifeln bevor du an deinem Glauben
zweifelst.“ „Niemand weiß, wie es sich wirklich zugetragen hat.“ „Das ist für
deine Errettung nicht entscheidend.“ „Irgendwann wird es eine Antwort geben.“ „Damit
Glaube möglich ist, muss es Belege für und dagegen geben.“ Usw.
Klar ist, ob bewusst oder unbewusst: es handelt sich nur um
eine Ausweich- und Bewältigungsstrategie. Die damit zusammenhängenden Themen
werden nicht adressiert. Was waren denn konkret die Fehler in
der Vergangenheit? Etwa die Diskriminierung von Schwarzen oder die Mehrehe? Was
ist denn jetzt mit dem Buch Abraham und Buch Mormon? Sind die Bücher
altertümlich ja oder nein? Hat Joseph Smith Gott Vater und Jesus Christus im
Wald gesehen ja oder nein? Hat die Wiederherstellung des Priestertums tatsächlich durch physische Engelserscheinung stattgefunden, obwohl 5 Jahre lang kein Mitglied davon erfuhr? Sind die Tempelzeremonien auf fälschliche
Interpretationen hinsichtlich der Geschichte der Freimaurer zurückzuführen ja
oder nein? Ist die Mormonen-Kirche die einzig wahre Kirche auf Erden ja oder
nein?
Und es geht doch auch nicht nur um ein paar Ungereimtheiten
und charakterliche Schwächen von Kirchenführern. Es geht darum, dass Joseph
Smith nachweislich nicht in der Lage und nur vorgegeben hat, altertümliche
Schriften lesen und übersetzen zu können. Es geht darum, dass alle angeblichen
Offenbarungen von Tempel über Wort der Weisheit bis hin zu den Graden der
Herrlichkeit nur von Zeitgenossen abgekupfert wurden. Es geht darum, dass es
seit Jahrzehnten keine Offenbarungen mehr gegeben hat und wenn unser Präsident
und Prophet das Mundstück Gottes auf Erden ist, Gott anscheinend
außerordentlich wenig zu sagen hat. Es geht darum, dass der historische Jesus
kaum etwas mit dem mormonischen Bild des Messias zu tun hat und
alttestamentliche Figuren wie Adam, Noach, Moses und Abraham nur mythische
Gestalten sind, die ganze Geschichte des Volkes Israel auf Post-Exil-Propaganda
beruht, um eine nationale Identität, die es vorher nie gegeben hat, zu
kreieren. Und und und.
Das hat schon lange nichts mehr mit Zweifel zu tun. Es ist
die Aufdeckung der wahren Geschichte und Hintergründe. Es ist der Unglaube an
die falschen Darstellungen der Kirche. Es ist die Ablehnung der von der
Kirchenführung praktizierten Intransparenz in Bezug auf ihre Finanzen. Es ist
der Abscheu über die Manipulation von Kindern und Jugendlichen, denen Emotionen
als Zeugnisse verkauft werden. Es ist das Abschütteln mittelalterlicher Dogmen
und Vorstellungen von Teufeln und bösen Geistern, die uns verführen wollen. Es
ist die Abkehr von einer Moral, die hauptsächlich auf Sexualität zielt und
wirklich moralisches Verhalten als Halten von Bündnissen verkauft.
Woran ich jedoch zweifle ist, dass die Kirchenführer ehrlich
mit ihren Mitgliedern umgehen werden. Ich zweifle auch, dass Skeptiker wirklich
willkommen geheißen werden. Dass wirklich offen mit diesen Themen umgegangen
wird und unsere Kirchenführer konkret Stellung beziehen.
Ich begrüße jedoch, dass es liberale Kräfte in der
Kirchenführung gibt, wozu ich Präsident Uchtdorf zähle, während Apostel wie Oaks
nach wie vor in Phase 2 stecken. Da wird dann die Bejahung der Homo-Ehe als
Gotteslästerung gebrandmarkt als Ende von Familie und Religionsfreiheit. Damit will und kann ich nichts mehr zu tun haben.