Als Apologet (Verteidiger des Glaubens) erklärt man gerne
Fehler, Irrtümer und unmoralische Passagen in den Heiligen Schriften oder
Kirchenführern mit dem Hinweis auf die Menschlichkeit der Autoren und den
Einfluss aus der jeweiligen Zeit und Umgebung, dem sich die Autoren ausgesetzt
sahen.
So kann man dann das rassistische Gedankengut im Buch Mormon
auf Nephi oder Joseph Smith schieben, ohne aber die göttliche Inspiration beim
Verfassen oder Übersetzen grundsätzlich in Frage zu stellen. Gleiches gilt für
den Glauben Joseph Smiths, ganz Amerika wäre von den Nephiten und Lamaniten
besiedelt worden, das Freimaurertum würde bis zum Tempel Salomos zurückreichen,
die Vereinigten Staaten würden bald zugrunde gehen oder Zion würde in Missouri
aufgerichtet werden. Genauso mit allen mittlerweile über Bord geworfenen Thesen
wie Adam-Gott-Lehre oder Blutsühne. Ebenso dramatisch abweichende Lehren in
Bibel und Buch Mormon zum Wesen Gottes und Satans oder dem Schicksal der
Unrechtschaffenen in einer Hölle versus den jetzt proklamierten Graden der
Herrlichkeit. Der göttlich gebotene Völkermord im Alten Testament ist ebenso
auf ein kulturell bedingtes Missverständnis zurückzuführen wie die göttlich
sanktionierte Sklavenhaltung, Verfolgung von Abtrünnigen und
Frauenunterdrückung in den mosaischen Gesetzen.
Entweder hat Gott ein Kommunikationsproblem oder er nimmt es
bewusst in Kauf, dass er dramatisch missverstanden wird – ja sogar, dass
Passagen aus seinen Heiligen Schriften als Rechtfertigung für Verfolgung, Mord
und Diskriminierung dienen.
Und wenn wir wissen, dass sich Propheten in der
Vergangenheit selbst bei vermeintlichen Offenbarungen und bei Ansprachen in
Generalkonferenzen geirrt haben, sollten wir dann nicht auch sehr skeptisch
hinsichtlich aktueller Ansichten und Aussagen sein? Wenn sich Profeten und
Heilige Schriften in Bezug auf den Fluch der Schwarzen getäuscht haben, könnten
sie sich auch im Hinblick auf das Thema Homosexualität täuschen? Ist die Verschärfung des Wortes der Weisheit
hinsichtlich Wein und Bier primär durch die zeitgleiche Prohibitionswelle in
den USA zu erklären und nicht etwa auf ein göttliches Dekret zurückzuführen?
Ist die Sabbatheiligung am ersten Tag der Woche ein heidnisches Zugeständnis? Entstand
die Verehrung Jesu erst so richtig durch den Fanatiker und Petrus-Gegener
Paulus? Ist das Tempel-Garment nur ein Relikt aus den vom Freimaurertum
entliehenen Praktiken?
Als ich noch gläubig war, habe ich die problematischen
Aussagen und Lehren in der Vergangenheit durch den Faktor Menschlichkeit und
Unvollkommenheit der Offenbarungsempfänger erklärt, habe aber die aktuellen
Aussagen nicht in Frage gestellt. Wenn man jedoch grobe Fehler in der
Vergangenheit und dramatische Änderungen der Lehre konstatiert, so muss man die
aktuellen Aussagen, Praktiken und Lehren mit dem selben Maß messen und mit
einem großen Portion an Skepsis versehen.
Der moderne, liberale Gläubige ist bereit, vergangene,
anstößige Aussagen in den Heiligen Schriften und durch lebende Propheten
geäußert zu relativieren. Kaum einer ist dabei aber konsequent und stellt damit
auch die heutigen Lehren in Frage. Und wenn, dann nur die offensichtlich
überholten wie die noch verbreitete Homophobie. Wenn wir also auch aktuelle
Lehren hinterfragen, aber andererseits nicht nach dem Prinzip „alles oder
nichts“ vorgehen wollen, auf welcher Basis entscheiden wir dann, was für uns
richtig ist? Oben hatte ich Homosexualität, Wort der Weisheit, Sabbatheiligung und
Tempel-Garments beispielhaft erwähnt. Als liberaler Mormone könnte man die
Aussagen der Kirchenführer als Anregung verstehen, sich mit folgenden
Grundthemen auseinanderzusetzen anstatt nur dogmatisch Richtlinien zu befolgen:
- Homosexualität: Wie können wir den Zusammenhalt von Familien bestärken und Sexualität in gesunder Form ausleben?
- Wort der Weisheit: Wie können wir uns gesund ernähren, uns vor schädlichen Süchten bewahren, verantwortungsvoll mit Rausch- und Genussmitteln umgehen sowie nachhaltig handeln (im Hinblick auf den Umgang mit den natürlichen Ressourcen, Tieren, Welternährung)?
- Sabbatheiligung: Wie finden wir eine Balance zur Arbeit und die Möglichkeit, unsere inneren ‚Batterien‘ aufzuladen, oder unsere Art des Lebens und Miteinanders zu reflektieren?
- Tempel-Garment: Wie kann ich meine Spiritualität pflegen und mich daran erinnern, was mir am wichtigsten im Leben ist?
Bei all diesen Fragen sollten wir uns nicht am
Erkenntnis-Stand von vor Hundert oder gar Tausend Jahren orientieren. Und überlegen,
ob Kaffee und Tee wirklich schlimmer ist als die Verteufelung von
Homosexualität und ob Gott sich mehr für unsere Art der Unterwäsche
interessiert als den Hunger von Millionen von Menschen.
Man kann allerdings auch diejenigen verstehen, die
angesichts extremst moralisch verwerflicher Aussagen von Bibel, Buch Mormon
& Co. in Frage stellen, ob ein Gott da überhaupt die Hand im Spiel hatte
bzw. ob wir uns nicht lieber an anderen Maßstäben orientieren sollten. Oder man
zum Schluss kommt, dass wenn die Aussagen von Heiliger Schrift und Propheten
keine verlässliche Quelle von Wahrheit sind, die Berechtigung von Kirche hinfällig
ist. Offensichtlich spielt es für Gott – wenn es ihn gibt – keine große Rolle,
was wir genau glauben und ob, wann und wie wir ihn verehren. Und hilft mir die
Kirche angesichts manch antiquierter oder verquerter Vorstellung wirklich
fundamental weiter, ein glückliches und moralisches Leben zu leben? Was wie
gesagt, wenn die Siegelung im Tempel irgendwann genau so abgeschafft wird wie
die Adoption oder nur noch extrem elitär praktiziert wird wie die zweite
Siegelung? Und werden wir uns nicht ärgern, jahrzehntelang unförmige
Unterwäsche getragen zu haben, wenn das nur ein Spleen von Joseph Smith war?
Und was mit den vielen Genealogie-Stunden, wenn alles nur die Einbildung war? ...