Ein häufige Reaktion und Argumentationsweise, wenn Mitglieder mit den
problematischen Aspekten der Kirchengeschichte konfrontiert werden, setzt sich
aus den folgenden 3 Teilen zusammen:
1. Wissenschaftliche und
geschichtliche Erkenntnisse in Frage stellen
„Niemand kann sagen, was genau vor 100 bis 200 Jahren vor sich gegangen
ist. Erinnerungen und Aufzeichnungen sind subjektiv und reflektieren vor allem
die weit verbreitete Ablehnung Joseph Smiths. Die wissenschaftlichen Ansichten
ändern sich ständig und werden revidiert. Daher kann man sich auf die
Wissenschaft nicht verlassen. Usw.“
2. Die Bedeutsamkeit der
Vorgänge in der Anfangszeit der Kirche herunterspielen
„Das ist lange hinter uns. Warum sich mit einigen Flecken in unserer
Geschichte beschäftigen? Das ist für unsere Errettung nicht entscheidend. Nach
diesem Leben werden wir es verstehen. Natürlich sind auch Kirchenführer
menschlich und machen Fehler. Usw.“
3. Spirituelle Erlebnisse als
einzig verlässliche Quelle göttlicher Wahrheit hinstellen
„Einige Dinge können nur mit geistigen Augen gesehen werden. Die
Wahrheit der Kirche ist eine Frage des Glaubens und Glauben kommt nicht durch
Fakten und Belege – sonst wäre es ja kein Glaube. Es muss vielmehr Argumente
dafür und dagegen geben, so dass wir uns für den Glauben entscheiden können und
dieser uns nicht durch die Faktenlage quasi aufgezwungen wird. Viele Menschen,
die all das wissen, sind dennoch gläubig. Ich habe darüber gebetet... Ich habe
viele geistige Erlebnisse und Zeugnisse empfangen, die ich nicht abstreiten
kann. Usw.“
Warum ist diese
Argumentationsweise aber problematisch? Und warum spielt die Kirchengeschichte
doch eine wichtige Rolle für unseren Glauben?
Mormonen glauben, dass die meisten Menschen und auch die meisten
Christen ihre spirituellen Erlebnisse falsch interpretieren. Nämlich indem diese
Menschen ihre geistigen Erlebnisse oder erlebten Wunder als Bestätigung ihres
Glaubens an eine bestimmte Religion bzw. Kirche interpretieren. Diese
Interpretation soll nur für Mormonen richtig sein. All die Millionen anderer
Gläubige bekommen eigentlich nur Einflüsterungen des Heiligen Geistes, dass es
einen Gott Vater und Jesus gibt und dieser sie liebt. Wer jedoch als
Anglikaner, Methodist oder Katholik betet, um den Glauben an seine Kirche von
Gott bestätigen zu lassen, erhält entweder keine Antwort oder er – so er sie
zustimmend wahrnimmt – missversteht diese. Merkwürdigerweise beschreiben
Nichtmormonen ihre Erlebnisse oftmals exakt so, wie Mormonen diese auch
wahrnehmen, nämlich durch warme, positive Gefühle, eine Energie, die durch den
ganzen Körper strömt u.ä.
Wenn also die Chance extrem hoch ist, dass spirituelle Erlebnisse
missverstanden werden, so muss wahrer Glaube rational hinterlegt sein, um Ernst
genommen zu werden. Der Glaube muss gepaart sein mit der Frage nach
Verifizierung bzw. Falsifizierung durch rationale Wege, die Realität
wahrzunehmen. Im Falle des Mormonismus müssen wir uns als Mitglieder fragen, ob
es auch möglich ist, dass ein Joseph Smith sich geirrt oder seine Anhänger in
die Irre geführt hat. Und da anscheinend göttliche Inspiration kein exklusives
Vorrecht der Mormonen ist, reicht es nicht zu zeigen, dass ein Joseph Smith und
Nachfolger ein wenig Inspiration genossen haben. Nein sie müssen ein sehr hohes
Maß an Inspiration genossen haben. Wenn der Mormonismus wahr ist, darf anders
herum argumentiert der menschliche Faktor nicht zu ausgeprägt sein.
Wenn wir nun unter dieser Sichtweise die Kirche untersuchen, stellen
wir fest:
a) Joseph Smith war durch und durch von einer abergläubischen Sicht
durchdrungen und überzeugt, wiederholt Geister, Schätze, Hexen, teuflische
Wesen u.ä. zu sehen. Was seine hellseherischen Tätigkeiten vor und in der
Anfangsphase der Kirche anbelangt (bspw. auch die Schatzsuche in Salem), würden
sogar gläubige Mitglieder sagen, dass er sich dabei geirrt hat. So hat er lange vor Moroni Sehersteine besessen sowie magische Dolche und Amulette, um Schätze und andere Dinge zu finden, wofür er 1826 als Betrüger und Störenfried verurteilt wurde.
b) Joseph Smith besaß genügend Phantasie und Basismaterial, um das Buch
Mormon zu verfassen. Er soll seine Familie lange vor dem Erlangen der Platten
mit Geschichten über die Ureinwohner Amerikas unterhalten haben. Nach Zeugenaussagen hat Joseph für die Übersetzung nie die Platten verwendet, sondern in seinen Hut geschaut, in welchem sein Seherstein lag. Und nach eigener Aussage ist das Buch Mormon in seinem eigenen Kopf entstanden, siehe LuB 9:8: "Du mußt es mit deinem Verstand durcharbeiten; dann mußt du mich fragen,
ob es recht ist, und wenn es recht ist, werde ich machen, daß dein Herz
in dir brennt; darum wirst du fühlen, daß es recht ist." Die Parallelen
zu dem aus der Nachbarschaft stammenden Werk ‚View of the Hebrews‘, der damals
gängigen Revival-Rhetorik, den Träumen Joseph Smith Sr. usw. sind auffällig.
Ebenso auffällig ist der Mangel an Belegen für einen hebräischen oder
ägyptischen Einfluss in Mesoamerika – seien es moderne Verfahren der
Sprachforschung und Genetik oder der Archäologie. Außerdem war es eine bekanntermaßen verrückte religiöse Zeit und Gegend, die so durchgeknallte Gruppen wie etwa die Shakers hervorbrachte (die allerdings wegen ihrer Lehre eines strikten Zölibats auf Dauer kein großes Wachstum erzielen konnten).
c) Joseph Smiths Fähigkeit, alte Dokumente tatsächlich zu übersetzen,
ist sehr fragwürdig. Die gefälschten Kinderhook-Platten bezeichnete er als
authentisch und aus dem Geschlecht
soundso kommend, das Buch Abraham hat nachweislich nichts mit den in
Nauvoo erworbenen Papyrusrollen zu tun und das von ihm verfasst ägyptische
Alphabet verkennt sogar die Grundprinzipien der ägyptischen Sprache. Inhaltlich
wiederum gibt es erstaunliche Parallelen zu Dokumenten der Freimaurer, die ihm
vorlagen, sowie Inhalten, die er im Rahmen seines Hebräisch-Studiums
kennengelernt hatte.
d) Joseph Smith hat sich in Bezug auf die Altertümlichkeit der
Freimaurer-Rituale getäuscht. Diese sind nur wenige Jahrhunderte alt. Und
Joseph Smith behauptete, dass diese bis zu Adam zurückreichen und lediglich
korrumpiert wurden, er also das wahre Freimaurertum durch die Tempelzeremonien
wiederherstellen würde.
e) Joseph Smith hat eine Menge moralisch verwerflicher Taten begangen,
die göttliche Inspiration bezweifeln lassen: Überfälle in Missouri,
Verheimlichung und öffentliches Abstreiten von Mehrehen, betrügerisches Handeln
bei der Kirtland Bank…
f) Alles, was nach Altertum aussah, wurde von Joseph Smith mit seinen
Glaubensvorstellungen verknüpft: Ein Skelett, welches beim Zionscamp gefunden
wurde, wurde als lamanitischer Krieger-Prophet Zelph, Steinhaufen in Missouri
als Überreste des Altars Adams usw. identifiziert.
g) Joseph Smith lag bei seinen apokalyptischen Vorstellungen hinsichtlich
des unmittelbar bevorstehenden Zerfalls der Vereinigten Staaten, des
Herbeikommens der Verlorenen Stämme usw. eher daneben.
h) Etliche Abschnitte von Lehre und Bündnisse erscheinen sehr
menschlich (wie Abschnitt 132) und auch James J. Strang konnte ähnliche ‚Offenbarungen‘
produzieren.
i) Joseph Smith hat im Verlauf seines Lebens die Erlebnisse von Erster
Vision, Erscheinen des Engels Moroni und Johannes des Täufers immer realer
dargestellt mit signifikanten Veränderungen.
j) Brigham Young hat mit seinen ‚Offenbarungen‘ dramatisch danebengelegen:
die im Tempel gelehrte Adam-Gott-Lehre, die Lehre von der Blutsühne, die
Verheißung, Schwarze würden vor dem Zweiten Kommen keinesfalls das Priestertum
bekommen usw.
k) Nach der widersprüchlichen Vision Joseph F. Smiths haben die
Offenbarungen hinsichtlich Evangeliumslehren aufgehört. Seitdem gibt es nur
noch ‚Offenbarungen‘ zu Kirchenrichtlinien wie wer das Priestertum erhalten
kann oder aktuell wann auf Mission gegangen werden darf. In den
Generalkonferenzen findet man hervorragend inszenierte Ansprachen mit von Schriftstellen
durchsetzten Lebensweisheiten, überwiegend positiven moralischen Aufforderungen
und einigen fragwürdigen dogmatischen Aussagen zur Schlechtigkeit der Welt,
Sünde der Homosexualität u.ä.
Die Liste ließe sich noch deutlich erweitern, zeigt aber schon, dass
die Vorgänge – wenn nicht die verschönte offizielle Version vorherrscht – sehr
stark für einen überwiegend menschlichen Hintergrund sprechen. Als Mitglied der
Kirche hat es für mich sehr lange gedauert, um dieses zu realisieren, da die
übermenschliche, wundersame Darstellung von Erster Vision & Co. quasi mit
der Muttermilch eingeflößt wird. Ich habe mich denn auch lange gegen das
Eingeständnis gewehrt, dass es wohl weit weniger wundersam und himmlisch
inspiriert stattgefunden hat.
Gibt es dagegen andere rationale Argumente, die für die Wahrheit der Kirche Jesu Christi sprechen? Oder welche anderen Argumente könnten einem als Mitglied von der Unwahrheit überzeugen?
Zwei Argumente für die Wahrheit der Kirche neben den rein spirituellen sind besonders verbreitet:
(a) Das Evangelium bewirkt so viel Gutes im Leben der Mitglieder und insbesondere für Familien.
(b) Das Evangelium und insbesondere der so genannte Plan der Erlösung macht so viel Sinn.
Zu (a): Zweifelsohne sorgt ein gemeinsames Ziel und Lebenseinstellung für Zusammenhalt. Auch führen Prinzipien wie Vergebung, Nächstenliebe und Dankbarkeit zu einer glücklicheren Einstellung, genauso wie die Vorstellung, wertvoll in den Augen Gottes zu sein und geliebt zu werden. Zusätzlich hat der Verzicht auf Alkohol, Drogen und Tabak positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Usw. Andererseits kann die Kirche auch negative Effekte heraufbeschwören. So soll etwa der Konsum von Antidepressiva in Utah außergewöhnlich hoch sein, ebenso wie der Konsum von Internetpornographie. Aber ungeachtet möglicher negativer Seiten, sind die positiven Effekte ausreichender Beleg für die theologische Wahrheit? Einer Studie zufolge sind die Bewohner des Inselstaats Vanuatu im Südpazifik die glücklichsten Menschen der Welt. Aber was sagt das über deren religiöse Vorstellungen aus? Oder kann man wirklich sagen, dass Thomas S. Monson bessere Werte lehrt als der Guru Adyashanti? Oder wenn der familiäre Zusammenhalt im buddhistischen Bhutan stärker ist als in christlichen Ländern? Und wenn ich eine Religion gründen würde, die veganes Essen proklamiert und meine Mitglieder nachweislich gesünder als Mormonen wären, würde das meine Religion wahrer machen?
Zu (b): Der so genannte Plan der Erlösung hat mich lange Jahre sehr angesprochen, hat er doch meine Fragen nach dem Sinn des Lebens hervorragend beantworten können. Warum aber fehlen wesentliche Elemente dieses Plans in der Bibel und Buch Mormon - zumindest wenn man nicht krampfhaft die heutige Lehre in die Bücher hineinliest? Nichts von vorirdischem Dasein oder Graden der Herrlichkeit im Buch Mormon. Da gibt es nur Himmel und Hölle. Der Teufel als Gegenspieler Gottes entsteht erst unter babylonischem Einfluß zum Ende des Alten Testaments hin. Usw. Insgesamt muss man auch hierbei fragen, ob die subjektiv stimmigste Erklärung von Gut und Böse, Leid, dem Wesen Gottes, woher wir kommen, warum wir hier sind und was nach diesem Leben passiert als Beleg für die Wahrhaftigkeit ausreicht.
Gibt es dagegen andere rationale Argumente, die für die Wahrheit der Kirche Jesu Christi sprechen? Oder welche anderen Argumente könnten einem als Mitglied von der Unwahrheit überzeugen?
Zwei Argumente für die Wahrheit der Kirche neben den rein spirituellen sind besonders verbreitet:
(a) Das Evangelium bewirkt so viel Gutes im Leben der Mitglieder und insbesondere für Familien.
(b) Das Evangelium und insbesondere der so genannte Plan der Erlösung macht so viel Sinn.
Zu (a): Zweifelsohne sorgt ein gemeinsames Ziel und Lebenseinstellung für Zusammenhalt. Auch führen Prinzipien wie Vergebung, Nächstenliebe und Dankbarkeit zu einer glücklicheren Einstellung, genauso wie die Vorstellung, wertvoll in den Augen Gottes zu sein und geliebt zu werden. Zusätzlich hat der Verzicht auf Alkohol, Drogen und Tabak positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Usw. Andererseits kann die Kirche auch negative Effekte heraufbeschwören. So soll etwa der Konsum von Antidepressiva in Utah außergewöhnlich hoch sein, ebenso wie der Konsum von Internetpornographie. Aber ungeachtet möglicher negativer Seiten, sind die positiven Effekte ausreichender Beleg für die theologische Wahrheit? Einer Studie zufolge sind die Bewohner des Inselstaats Vanuatu im Südpazifik die glücklichsten Menschen der Welt. Aber was sagt das über deren religiöse Vorstellungen aus? Oder kann man wirklich sagen, dass Thomas S. Monson bessere Werte lehrt als der Guru Adyashanti? Oder wenn der familiäre Zusammenhalt im buddhistischen Bhutan stärker ist als in christlichen Ländern? Und wenn ich eine Religion gründen würde, die veganes Essen proklamiert und meine Mitglieder nachweislich gesünder als Mormonen wären, würde das meine Religion wahrer machen?
Zu (b): Der so genannte Plan der Erlösung hat mich lange Jahre sehr angesprochen, hat er doch meine Fragen nach dem Sinn des Lebens hervorragend beantworten können. Warum aber fehlen wesentliche Elemente dieses Plans in der Bibel und Buch Mormon - zumindest wenn man nicht krampfhaft die heutige Lehre in die Bücher hineinliest? Nichts von vorirdischem Dasein oder Graden der Herrlichkeit im Buch Mormon. Da gibt es nur Himmel und Hölle. Der Teufel als Gegenspieler Gottes entsteht erst unter babylonischem Einfluß zum Ende des Alten Testaments hin. Usw. Insgesamt muss man auch hierbei fragen, ob die subjektiv stimmigste Erklärung von Gut und Böse, Leid, dem Wesen Gottes, woher wir kommen, warum wir hier sind und was nach diesem Leben passiert als Beleg für die Wahrhaftigkeit ausreicht.
Was, wenn Mormonen ihre
geistigen Erlebnisse missverstehen? Was heißt das für organisierte,
institutionelle Religion insgesamt?
Wenn nun die so genannte Wiederherstellung ein überwiegend menschliches
Produkt ist, wie sieht es mit dem Christentum insgesamt aus oder etwa dem
Judentum? Wenn man sich mit den Erkenntnissen der Bibelforschung
auseinandersetzt, kommt man nicht umhin, auch dort eher menschliches Handeln im
Redaktionsprozess zu entdecken. Wobei wir nicht einmal wissen, wer eigentlich die Autoren der Bibel sind - weder vom Alten Testament noch der Evangelien und vielen Briefen. Könnte es sein, dass jede Form von
Institutionalisierung göttlichen Glaubens eher menschlich ist? Dass das Problem
darin besteht, dass bestimmte Menschen behaupten, nicht nur an Gott zu glauben,
sondern auch zu wissen, was er genau will? Dass es für Gott wichtig ist, dass
wir ihn verehren. Warum eigentlich? Als Eltern wollen wir doch auch nicht von
unseren Kindern verehrt werden. Und dass es dann auch noch entscheidend ist,
wie wir ihn verehren, mit welchem Namen wir ihn nennen, was wir essen und
trinken uvm.
Vielleicht liegt viel Wahrheit in der Aussage von Lehre und
Bündnisse 10:67: „Siehe, dies ist meine Lehre: Wer auch immer umkehrt und zu
mir kommt, der ist meine Kirche.“ Der Abschnitt kann leicht als Ankündigung der
Wiederherstellung einer Institution Kirche verstanden werden. Aber hier wird
sehr deutlich, dass Kirche kein Dogma und keine Organisation sein soll, sondern
ein Ausdruck des dem Göttlichen Zuwendens und des moralischen Handelns.
Jedes Dogma und jede Organisation hat immer nur zu Diskriminierung und
Gewalt geführt. Jede Ideologie die besagt, dass in einem bestimmten Buch stünde
oder ein Profet wisse, was Gottes Wille ist, ungeachtet des natürlichen Gefühls
für Recht und Unrecht, ist gefährlich. Und ich habe noch keinen glaubhaften
Beleg dafür gefunden, dass sich Gott jenseits dieses Gefühls wirklich mitteilt.
Das sind alles menschliche Interpretationen und reflektieren das gerade
herrschende Weltbild: Sei es die Rolle von Männern und Frauen, die Rechte von
Schwarzen oder die Akzeptanz von gleichgeschlechtlicher Liebe.